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Annette Frick: Ein Augenblick im Niemandsland 09/2023, Camera Austria International

1990 erscheint Judith Butlers theoretisches Grundlagenwerk Gender Trouble als Blaupause für eine fluide Genderkonzeption abseits der binären Norm. Die Gruppierung Act Up engagiert sich für die Politisierung des Diskurses um die AIDS-Krise und publiziert im gleichen Jahr das Queer Nation Manifesto, worin sie auch die Repräsentation queeren Lebens fordert: »Being queer is not about a right to privacy; it is about the freedom to be public.« In den Clubs, Bars und auf den Kleinkunstbühnen Berlins formiert sich eine queere Undergroundszene, feiert Trash-Glam, Punk und Empowerment. Mit ihrer Serie Fuck Gender nimmt Annette Frick um 1990 die Arbeit an einer intimen Dokumentation dieser Szene auf, porträtiert Menschen mit Transidentitäten, Dragqueens, Lesben; im Studio, auf der Bühne, in den Straßen Berlins. Auch Stars der Kunstszene wie die Performerin Vaginal Davis oder die Sängerin Peaches sind dabei.

Rund 50 Handabzüge aus diesem Werkkomplex standen nun im Zentrum von Fricks bisher größter institutioneller Einzelausstellung im Marta Herford. Ähnlich wie bei Nan Goldin, die Mitte der 1980er-Jahre ihre Ballad of Sexual Dependency veröffentlichte, ist eine intime Nähe zur Fotografierenden spürbar. Einige der befreundeten Porträtierten tauchen immer wieder auf, etwa Künstler*in und Dragqueen Juwelia Soraya oder Gebärdenperformer*in, AIDS-Aktivist*in und Dragqueen Gunter Trube. Nur sind Fricks Fotografien im Gegensatz zu jenen Goldins schwarz-weiß, orientieren sich ästhetisch mehr an Diane Arbus.

Die 1990er-Jahre markieren auch einen Wendepunkt in der Geschichte Berlins. Gleich gegenüber von Fuck Gender hingen die Collagen aus Fricks Serie Nix… meta… meta… schwupp… weg… is… et… (seit 1996). Darin zeigt sie die Stadt als einen Ort, in den sich Geschichte und Unterdrückung durch festgeschriebene Geschlechterrollen einschreiben. Nationalsozialistische Architektur trifft auf Moderne. Aus der Zeit gefallene steinerne Statuen nackter Männerkörper treffen auf verfallende Häuser, neben denen sich schon neue im Bau befinden. Die Stadt ist bereits fest im Griff von Gentrifizierung und neoliberalem Ausverkauf, der auch jene subkulturellen Räume bedrohen wird, in denen die queere Community ihr Zuhause hat. »Miethaie zu Fischstäbchen« prangt auf einer Hauswand. Dazwischen Bilder von Dragqueens, Gunter Trubes Beerdigung und mehr.

In performativen Posen tritt Frick selbst in diesen Stadtbildern auf, als wolle sie mit ihrem Körper in den Lauf der Dinge intervenieren. Ihren eigenen Körper rückte Frick immer wieder ins Bild, zum Beispiel im seriellen Selbstporträt Ich (1991). Dieses zeigt ihre Vulva und Hände in Nahaufnahme bei der Selbstbefriedigung, nimmt sich so dem Tabu weiblicher Lust an und zitiert selbstermächtigend Gustave Courbets Gemälde L’Origine du monde (1866). Diese und weitere, radikalere Arbeiten, die Frick in der Tradition der feministischen Kunst verorten, waren in Herford nicht ausgestellt. Zum Beispiel Feuer und Wasser (1992), ein Diptychon, das sie in Pumps und Lederrock stehend von der Hüfte abwärts dabei zeigt, wie sie ein Feuer auspinkelt. Die Arbeit sei eine Antwort auf die Prometheus-Sage gewesen, erklärte Frick einmal, in der der Wolf der Frau das Feuer stehle und ihres auspisse.(1)

Auch in neueren, ab den 2000er-Jahren entstandenen Arbeiten, mit denen Frick ihr formales Repertoire erweitert, ist die Abwesenheit weiblicher Perspektiven in der Kunstgeschichte Thema. Die abstrakte 4-Kanal-Videoarbeit Cosmic Elements (2002–2003) etwa basiert auf Fotogrammen von Pflanzenteilen und menschlichem Sperma, ein Verweis auf Marcel Duchamps Arbeit Paysage fautif (1946), in der er sein Sperma als Ursprung der Kreativität inszenierte. Für die narrative Serie Spuren im Schatten eines Phantoms (2017) recherchierte Frick zur Geschichte von André Bretons Roman Nadja, der nach seiner Begegnung mit der an Schizophrenie erkrankten Künstlerin Léona Delcourt entstand.

Die Suche nach ihrem eigenen Platz in der Kunstgeschichte scheint Frick im Selbstporträt Ein Augenblick im Niemandsland (2011) anzutreiben. Ein kurzes Video und einige Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen sie als Akt tanzend auf dem zugefrorenen Berliner Müggelsee. Mit einer per Licht eingezeichneten Spirale zitiert eine der Aufnahmen Robert Smithsons als Meisterwerk gehandelte Land-Art-Arbeit Spiral Jetty (1970). Dass nun ausgerechnet Fricks radikalste Beiträge zur Kunstgeschichte fehlten, machte die Ausstellung seltsam unvollständig.

1 Annette Frick im Gespräch mit Anette Kubitza, »Flirting with the Fringe«, in: Camera Austria International Nr. 134, 2016, S. 18.

Marta Herford, 6. 5. – 13. 8. 2023