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Stocznia/Shipyard. Documents of Loss 10/2014

Verwitterte Steine, vom Regen blass gewaschene und stolz in den Himmel ragende Kräne, rostige Schienen: Alles hier atmet Geschichte. Die im 19. Jahrhundert gebaute Danziger Werft gehört zu den bedeutendsten historischen Or­ten Polens. Sie ist nicht nur spektakuläres Industrieerbe, sondern auch ein wichtiger Ort für das kollektive Gedächtnis der Europäer: 1980 formierte sich hier mit der Gewerkschaft Solidarność die Keimzelle der demokra­tischen Bewegung Polens, die 1989 zum politischen Umbruch führte. Einst arbeiteten über 15.000 Menschen auf der Werft, heute nur noch ein paar Hundert. Gerade entsteht hier ein neues Stadtviertel mit Luxuseinkaufszentrum und Wohnlofts am Wasser. Viele der historischen Bauten wurden dafür in den vergangenen Jahren abgerissen.

Im Rahmen des 6. Europäischen Monats der Fotografie präsentiert das Polnische Institut Berlin die er­ste Einzelausstellung des Fotografen Michał Szlaga in Deutschland. Über 15 Jahre hinweg dokumentierte er die Zerstörung des Ortes. In sachlichen Kompo­sitionen präsentiert er historische Gebäude auf dem Werftgelände vor und nach ihrem Abriss, außerdem Porträts verbleibender Schiffe, Kräne, Arbeiter und Interieurs. Mit diesem monumentalen Projekt avancierte er zu einem der wichtigsten polnischen Dokumentarfotografen der Gegenwart. Sein 2013 veröffentlichtes, 270 Seiten starkes Album mit Fotografien aus der Serie stieß eine öffentliche Diskussion an, die schließlich auch zum Erhalt einiger Gebäude führte. Es sind Dokumente eines schmerzlichen Verlusts und ein fieberhafter Versuch, Ansichten der Werft für das kollektive Gedächtnis zu erhalten.

2002 bezieht Szlaga mit weiteren Künstlern ein Gebäude auf dem Gelände. Sie hoffen, dass die nicht mehr genutzten Häuser und Hallen in eine neue, zeitgemäße Nutzung überführt werden, dass die verantwortlichen Politiker, von denen viele einst selbst Teil der Solidarność-Bewegung waren, sich für den Erhalt der Werft einsetzen und sie zum historischen Herzen des neuen Stadtviertels machen. 2003 wird ein Plan bekanntgegeben, der den Abriss eines großen Teils der Werft vorsieht. Allein für den Bau einer breiten Zufahrtsstraße lassen die Investoren mehrere Gebäude abreißen, darunter auch die gut erhaltene, 1888 gebaute Direktorenvilla, in der Szlagas Künstlerkommune lebt.

Szlaga ist täglich auf dem Gelände unterwegs. Er fotografiert Fassaden, Interieurs, Arbeiter und arbeitet auch selbst zwei Wochen mit, um sich in das Leben in den Produktionshallen einzufühlen. Herzstück des stetig wachsenden Werkkörpers wird die zwischen 2007 und 2013 entstandene Reihe zum Abriss großer Teile des wertvollen Industrieerbes. Die Lichtstimmung der Fotografien ist gedämpft, die Farben sind blass. Das Grau des Himmels verschwimmt mit dem Grau der Gebäude, der betonierten Wege, der Trümmerhaufen und der schneebedeckten Flächen, so als hätte sich ein Schleier des Vergessens über die Werft gelegt. Eines der Bilder hebt sich eigentümlich von der Ästhetik des tristen Verfalls ab: Es zeigt das Innere eines lichtdurchfluteten Raumes mit glänzenden Holzvertäfelungen und einem imposanten Kronleuchter aus Metall. Dieser liebevoll gereinigte Raum befindet sich in einem der noch erhaltenen Gebäude und steht im Kontrast zu den Ruinen, die von Vernachlässigung und mangelnder Wertschätzung zeugen.

Das Projekt entwickelt sich zur Anklage gegen die Folgen neoliberaler Stadtpolitik und zu einem Archiv mit unterschiedlichen ästhetischen und thematischen Aspekten. Es erinnert zum Beispiel an Walker Evans’ Fotografien der vom Verschwinden bedrohten viktorianischen Architektur in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die gerade ebenfalls im Rahmen des Europäischen Monats der Fotografie in einer Retrospektive im Martin-Gropius-Bau zu sehen sind. Evans faszinierten diese historischen Bauwerke und er widmete ihnen mit einem Werkkörper ein fotografisches Monument. Szlagas Projekt kann auch der seit einigen Jahren zum Genre wachsenden „Ruins Photography“ zugeordnet werden, die vor allem durch die Serie „The Ruins of Detroit“ der französischen Fotografen Yves Marchand und Romain Meffre Bekanntheit erlangte. Sie fotografierten die verfallenen Gebäude Detroits, die Überreste einer bis zum Zusammenbruch der Autoindustrie gefeierten Stadt. Auch die von Szlaga dokumentierten Ruinen tragen die Patina einer glorreichen Vergangenheit und der Utopien von einst.

Mit seiner Arbeit verweist der Künstler nicht nur auf die Wunden, die der Abriss der Werft im kollektiven Gedächtnis hinterlässt. Er setzt sich auch mit individueller Erinnerung auseinander. In Form von Porträts macht er auf Einzelschicksale und Biografien aufmerksam, die eng mit der Geschichte der Werft verknüpft sind. Auf einem der Bilder ist ein älterer Mann mit blauer Arbeiterhose, kariertem Flanellhemd und kurz rasierten Haaren von hinten zu sehen. Sein Körper wirkt drahtig, ein leichter Buckel wölbt den oberen Rücken, die Arme stützt er auf die Hüften. In resignierender Haltung schaut er in die Ferne auf einen Kran mit gesenktem Hubarm. Der Mann steht stellvertretend für Tausende Arbeiter, die fast ein ganzes Leben auf der Werft verbracht haben. Szlagas Arbeit zeigt letztlich auch, wie Identitäten in postkommunistischen Gesellschaften erodieren und Opfer einer Politik der Verdrängung werden. Er betreibt so wichtige künstlerische Erinnerungsarbeit, die gesellschaftliche Umbrüche im heutigen Osteuropa reflektiert.

Die Auseinandersetzung mit der Werft inspiriert Szlaga auch zu neuen Werkserien. Vor einigen Jahren reiste er mit der Kamera bis ins indische Alang, wo in der Werft gebaute Schiffe demontiert und verwertet werden. Er dokumentierte dort die Demontage, aber auch das Schicksal derer, die ihr Leben rund um die Verwertung der ausrangierten Schiffe aus Europa aufbauen. So erweitert Szlaga sein Projekt um eine globale Perspektive. Er zeigt bittere Armut und Ausbeutung und verweist darauf, wie wichtig die symbolische Kraft der auf der Danziger Werft geborenen Solidarność-Bewegung nicht nur für Polen und Europa, sondern für die ganze Welt ist.