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Jenseits der Zentralperspektive 03/2024, Springerin

Ein Gespräch mit Vanessa Amoah Opoku

In Vanessa Amoah Opokus Arbeit Sunrise to Sunrise (Tricksters) (2023) treffen Kakaoplantagen aus Ghana auf die Karawanken, ein Gebirge an der österreichisch-slowenischen Grenze. In diese Landschaften hat sich Geschichte einschrieben – Abholzung und Ausbeutung in neokolonialen Strukturen an dem einen Ort, Bäuerinnen und Bauern, die sich den Partisan*innen im Widerstand gegen das NS-Regime anschlossen, an dem anderen. Mithilfe einer LiDAR-Scanner-App hat Opoku diesen Landschaften Bilder in Form von Punktwolken entnommen und diese dann in einem Triptychon zusammengeführt. Die Arbeit zeigt einen gleichermaßen hyper- wie surreal anmutenden Ort, der über seine historischen Referenzen hinausweist. In dieser von ihr gebauten Welt erprobt die Künstlerin Praxen der Selbstermächtigung. Dafür eignet sie sich digitale Technologien an und entwirft spekulative Gegenbilder zum Ist-Zustand der Welt, die noch immer von kolonialen und faschistischen Projekten getrieben ist.

Opokus Werke entstehen unter Verwendung von 3D-Scan-Technik, Fotogrammetrie und Animation, aber auch Fotografie, Video und Sound. Sie verwendet Quellen und Archive der realen Welt, speist Datensätze in Künstliche-Intelligenz-Programme und lässt sie neue Bilder, Formen und Texte generieren. So entstehen Mixed-Reality-Kunstwerke, in denen oft nicht mehr klar ist, was fotografiert oder gefilmt und was generiert wurde. Sie weisen oft mehrere Schichten auf, nicht nur inhaltlich, sondern auch materiell: Über die Landschaft von Sunrise to Sunrise (Tricksters) etwa hat Opoku Bahnen einer durchsichtigen Silikonschicht gespannt, in die Pflanzenfasern und Erde eingelassen sind. Diese hat sie beim Scannen an den jeweiligen Orten gesammelt.

Als ich mit der Künstlerin spreche, ist sie gerade in Kumasi in Ghana, wo ein Teil ihrer Familie lebt. „Meine Familie lebte lange vom Kakaoanbau. Die großen Plantagen hier waren für Abholzung und Monokultur verantwortlich. Später wurde für den lukrativen Goldabbau noch mehr abgeholzt und Familienbetriebe wurden enteignet. Früher war die britische Kolonialmacht federführend, heute ist häufig China Investor. Ich habe 3D-Scans von einigen der letzten Kakaobäume gemacht, die es noch gab. Wenn man heute ins Dorf fährt, sieht man bis zum Horizont keinen Baum mehr.“

Wollte man den Begriff Mixed Reality etwas weiter fassen, könnte er nicht nur für eine mediale Umgebung, in der Reales auf Virtuelles trifft, stehen, sondern paradigmatisch auch für unser medial durchdrungenes Erleben in der Gegenwart. Für Opoku steht er aber für noch viel mehr: „Mixed Reality zu nutzen hat für mich auch einen sehr persönlichen Aspekt. Ich werde in Deutschland als Schwarze angesehen und in Ghana als weiß, erst mein typisch ghanaischer Name verrät, dass ich hier verwurzelt bin. Mich begleitet ständig die Frage, wie ich diese Identitäten unter einen Hut kriege. Das worldbuilding stellt für mich auch eine Art von Handlungsmacht dar: die Möglichkeit, einen Ort zu schaffen, an dem ich nicht fremdbestimmt bin oder durch den Blick von außen geprägt werde. In meiner Jugend waren das für mich Computerspiele wie GTA. Heute sind es die von mir per 3D-Scans modellierten Welten, durch die ich so navigieren kann, wie ich will.“

Handlungsmacht spiele auch in ihrer Arbeit Rooted Resurgence (seit 2023) eine Rolle, sagt Opoku. Dafür hat sie sich mit der Sammlung des Botanischen Gartens von Palermo beschäftigt und 3D-Scans der Pflanzen dort angefertigt. Die sizilianische Hafenstadt war ein zentraler Anlaufpunkt im transatlantischen Sklavenhandel, die Sammlung steht für eine europäische Tradition der Exotisierung und Unterwerfung. Wenn sie die Pflanzen per Scan „mitnehme“ und aus dem künstlichen Rahmen dieses Gartens befreie, fühle sich das auch so an, als gebe sie ihnen Handlungsmacht, sagt Opoku.

Unvermeidlich denke ich daran, dass racial bias in die Technologie ebenso wie in die reale Lebenswelt strukturell einprogrammiert ist. Doch die Art und Weise, wie Opoku sich Technologie aneignet und neue Welten schafft, spricht von einer Form der Handlungsmacht, wie sie sich etwa auch in den spekulativen Visionen des Cyberfeminismus oder des Afrofuturismus abbildete. Eine wichtige Inspiration sei für sie die feministische Science-Fiction-Literatur der 1970er- und 1980er-Jahre gewesen, sagt die Künstlerin, etwa die Schwarze Autorin Octavia E. Butler: „Als Butler anfing zu schreiben, kamen Schwarze Charaktere in der Science-Fiction gar nicht vor. Also entschied sie einfach, sich selbst da hineinzuschreiben.“

3D-Scan-Technik kommt in nahezu allen Arbeiten Opokus zum Einsatz, etwa auch in ihrem Beitrag zu einer Gruppenausstellung im Technischen Museum Wien über Museen als Orte kolonialer Macht, worin sie sich auf ein aus dem Norden Brasilien stammendes Paar Kautschukschuhe bezog: „Ich versuchte mir vorzustellen, in welchen Realitäten sich die Schuhe wiederfänden, wenn sie nicht in einer dunklen Box im Archiv eines Wiener Depots lägen. Es ging mir dabei auch um Shapeshifting“ – also einer Form der Metamorphose oder Gestaltwandlung, wie sie in Fantasy-Plots vorkommt.

Für ihre Diplomarbeit Nichts als Solide (2021) speiste sie Gedichte der jüdisch-deutschen Lyrikerin Mascha Kaléko und der afrodeutschen Dichterin und Aktivistin May Ayim als Datensätze in eine Künstliche-Intelligenz-Anwendung. Der entstandene fiktive Monolog speist sich aus den Erfahrungen unterschiedlicher Zeiten, die vom Faschismus der 1930er-Jahre und dem der 1990er-Jahre, der „Baseballschlägerjahre“ in Deutschland, geprägt waren. „Die zeitlose Sprache von Kalékos Gedichten und Geschichten berühren mich sehr, ihr Berlin fühlt sich sehr gegenwärtig an. Ich fand darin eine Nähe zu May Ayim: die starke Sprache, das starke Frauenbild.“

In der Auseinandersetzung mit der eigenen Identität habe Ayim sie sehr beeinflusst, sagt Opoku. Und auch die eigene Lebenserfahrung in Berlin, wo die beiden Frauen lebten, ging in die Arbeit ein: Um eine visuelle Entsprechung für die Tonspur zu finden, arbeitete Opoku mit Scans, die sie auf nächtlichen Wegen durch die historisch aufgeladene Stadtlandschaft aufnahm. „Sowohl für Ayim als auch für Kaléko war Berlin ein Ort der Freiheit, aber gleichzeitig auch ein gefährlicher Ort.“ Sie selbst studierte zunächst in Wien, dann in Jerusalem und später in Leipzig, von wo aus sie vor einigen Jahren nach Berlin zog. Das sei auch eine Flucht vor Pegida gewesen, jener rassistischen Bewegung, die vor allem im Osten Deutschlands zahlreiche Menschen mobilisierte und den Faschismus der 2020er-Jahre einläutete.

Immer wieder kommen wir auf die Landschaft und ihre Rolle als Projektionsfläche zurück. Darauf, wie die eng mit ihrer Landschaft verbundenen Partisan*innen auf absurde Weise in die österreichische Nationalerzählung eingingen, als Beispiel für ein angeblich widerständiges Österreich. Und über Landschaft als Gattung der Kunstgeschichte. „Mich hat ein Text des Künstlers Marwan Moujaes inspiriert, worin er den Blick auf die Landschaft in Bezug auf Machtverhältnisse untersucht. Die Zentralperspektive entspricht dem weißen, männlichen Blick, der sich die Landschaft unterwirft. Mit dem Verwehren der eigenen Landschaft wird auch die eigene Identität verwehrt. Das zieht sich in Ghana von der Kolonialzeit bis in die Gegenwart.“ Opokus Sunrise to Sunrise (Tricksters), worin ebenfalls die Zentralperspektive dominiert, erhebt genau darauf Anspruch – die Möglichkeit, sich die Landschaft zurückzuholen.