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Geschichte ist nie zu Ende 09/2023, TAZ

Auf der Stirn des schnauzbärtigen Mannes, der uns auf dem Schwarzweiß-Porträt mit müden Augen entgegenstarrt, klebt eine jugoslawische 100-Dinar-Note. Unter dem Bild steht „Pjevaj!“, kroatisch für „Sing!“. Der Mann ist Mladen Stilinović, einer der bekanntesten Kunstschaffenden des ehemaligen Jugoslawiens. Seine Collage aus dem Jahr 1980 zitiert die Tradition, Unterhaltungskünstler:innen mit Spucke einen Geldschein auf die Stirn zu kleben. So kommentierte der mittlerweile verstorbene Stilinović, wie seine Zunft zwischen ideologischer und kommerzieller Vereinnahmung aufgerieben wird, und auch die Geopolitik: Auf dem Geldschein ist die Skulptur einer Friedensreiterin des Bildhauers Antun Augustinčić abgebildet, die Tito den Vereinten Nationen schenkte.

Nach Titos Tod im Entstehungsjahr der Arbeit währte der Frieden nicht lange, die sozialistische Utopie des blockfreien Jugoslawiens starb mit ihrem Kopf. Bald suchte eine Hyperinflation die Region heim und ab 1991 wüteten die Jugoslawienkriege. Schließlich zerfiel die Republik in unabhängige Staaten. Stilinovićs Arbeit hängt jetzt im Parkettfoyer des Gorki Theaters und bildet dort den Mittelpunkt der dreiteiligen Ausstellung „Lost. You Go Slavia“ des 6. Berliner Herbstsalons, die in den kommenden Wochen flankiert von Theaterstücken, Gesprächen und Filmen den postjugoslawischen Raum in den Blick nimmt. Das Gorki hat es mittlerweile zur Tradition gemacht, das politische Zeitgeschehen in diesem Format mit Werken der bildenden Kunst kritisch zu kommentieren. Wie schon bei den vorherigen Ausgaben gelingt das dem kuratorischen Team um Intendantin Shermin Langhoff wieder hervorragend.

Für das Projekt „Four Faces of Omarska“ recherchiert Milica Tomić seit 2009 in Zusammenarbeit mit weiteren Künstler:innen aufwendig zur Stadt Omarska im Nordwesten Bosnien-Herzegowinas. Im sozialistischen Jugoslawien wurde hier Eisenerz abgebaut. 1992 betrieben bosnisch-serbische Streitkräfte in dem Bergbaukomplex ein Folter- und Todeslager und brachten Hunderte jugoslawische Muslim*innen, Kroat*innen und andere politische Gefangene um. Mit Investitionen eines internationalen Konzerns wurde am gleichen Ort schließlich der kommerzielle Bergbau wieder aufgenommen. Später wurde der Ort makabrerweise zum Schauplatz eines staatlich koproduzierten Historienblockbusters.

Tomić treiben die Kriegsverbrechen der frühen 1990er Jahre um. An die in Omarska begangenen erinnert heute nicht einmal eine Gedenktafel. Gleich zu Beginn ihrer Ausstellung im nüchternen „Kiosk“, einem großen Raum in einem separatem, modernen Gebäude neben dem historischen Theaterbau, begegnen die Besucher:innen einem Modell des Lagers, das in den Prozessen am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag verwendet wurde. An der Wand gegenüber können sie die UN-Resolution 1820 lesen, die den Einsatz sexualisierter Gewalt als strategisches Kriegsmittel ächtet – auch in Omarska wurden Frauen vergewaltigt. Welche Rolle globales Kapital für die lokale Politik spielt und wie es die Kriege beeinflusste, erläutert in einem Video ein Wissenschaftler. Viele weitere künstlerisch bearbeitete Dokumente geben Aufschluss über die Geschichte des Ortes und stellen Bezüge zur Gegenwart her, etwa in Landkarten eingezeichnete Fluchtwege, die an die heutige Balkanroute und gewaltsame Pushbacks denken lassen.

Auch Danica Dakić widmet sich in der „Zenica Trilogy“, mit der sie 2019 bei der Venedig Biennale den bosnischen Pavillon bespielte, einem exemplarischen Ort: dem bosnischen Zenica. Die Industriemetropole war einst Musterbeispiel sozialistischer Architektur. In mehreren Prunkräumen des Gorki – Kaiserstube, Eichensaal, Lichtsaal – installierte Videos geben Einblicke in das heute wenig glanzvolle Zenica und führen die Besucher:innen passenderweise in das Bosnische Nationaltheater, wo ein Techniker unter anderem vom Weiterbetrieb während des Kriegs erzählt, und eine Schauspielerin hechelnd gegen die knarzende Drehbühne anrennt.

Ausgangspunkt von Dakićs Arbeit war eine Recherche zu Walter Gropius Idee des „Totaltheaters“ mit drehbaren Zuschauerreihen und Flächen für Licht- und Filmprojektionen. Das nie realisierte Projekt steht für das Scheitern einer Utopie, wie sie im Bauhaus aufgehoben war. In den Sozialismus brach der Neoliberalismus mit seinem vermeintlichen Ende der Geschichte schließlich brutal ein. Doch – das macht das Herbstsalon-Programm einmal mehr deutlich – Geschichte ist nie zu Ende. So wie der Künstler in Stilinovićs Selbstporträt wird auch sie immer wieder neu ideologisch und kommerziell vereinnahmt. Hin und wieder bricht sie sich in der Gegenwart ganz unerwartet Bahn, wie in Dakićs Videosequenz „Vedo“, die sie im Gorki erstmals präsentiert: Da steht ein Junge am Bahnhof Sarajevo und spielt auf seiner Ziehharmonika eine alte Partisanenhymne, während dicke Schneeflocken vom Himmel rieseln.