Textarchiv

Poet mit Kamera 10/2014, Photonews

Er habe fotografieren wollen, wie James Joyce schrieb, sagte Walker Evans einmal. Schaut man genau hin, passt ein Vergleich zwischen Evans dokumentarisch-künstlerischer Fotografie und Joyces moderner Bewusstseinsstrom-Literatur tatsächlich gut. Beide näherten sich der sie umgebenden Welt assoziativ, impulsiv und eigenwillig. Beide entwickelten so eine Sprache, die durch die Oberfläche hindurch und in die Tiefe bricht, um den Betrachter oder Leser mit hinabzuziehen. Das ist so bei Evans’ Bildern von armen Landarbeitern zur Zeit der Großen Depression im Süden der USA in den Dreißigerjahren, die ihn bekannt machten, bei den eindringlichen Porträts, die er von Künstlerfreunden wie dem Fotografen Robert Frank oder dem Schriftsteller Tennessee Williams schuf, und auch bei den detailreichen Interieurs, mit denen Evans Menschen beschrieb, ohne sie zu zeigen.

Mit über 200 Schwarzweiß-Fotografien zeigt die von James Crump kuratierte Retrospektive jetzt einige Klassiker, vor allem aber selten veröffentlichte Arbeiten. Anhand chronologisch geordneter Kapitel leitet die Schau nüchtern durch Evans’ Oeuvre. In Vitrinen liegen Briefe, Fotobücher und Ausgaben des Magazins „Fortune“, für das Evans 20 Jahre lang arbeitete und sogar die Texte selbst schrieb. Schon vor zwei Jahren zeigte die SK Stiftung Kultur die Ausstellung in Köln. Damals waren neben den Abzügen, die größtenteils aus der Sammlung des US-amerikanischen Ehepaars Clark und Joan Worswick stammen, auch Polaroids zu sehen. Polaroid-Erfinder Edwin Land hatte Evans selbst eine Kamera geschenkt. Dieser erkundete das Medium in den letzten beiden Jahren vor seinem Tod 1975 und schuf farbige Ansichten urbaner Szenerien.

Dass die Sofortbilder im Berliner Martin-Gropius-Bau fehlen, weil die Leihverträge nicht verlängert werden konnten, ist schade. Doch auch ohne dieses Kapitel vollbringt die Schau eine großartige Leistung: Sie zeigt, wie facettenreich Evans Werk wirklich ist. Die Besucher begeben sich mit ihm auf eine Reise durch die USA, als deren Chronist Evans gerne gehandelt wird, und bis nach Tahiti, wo er seinen einzigen Film drehte. Auf diesen Wegen lässt sich die ansteckende Experimentierfreude des Künstlers nacherleben, etwa bei den in New Yorker U-Bahnen entstandenen „Subway Portraits“. Gemeinsam mit der Fotografin Helen Levitt fuhr Evans stundenlang durch den Untergrund der Stadt, mit einer 35mm-Contax um den Hals und einem Stativ unter dem Mantel. Die Aufnahmen entstanden im schwachen Bahnlicht ohne Blick durch den Sucher. Es sind spontane Kompositionen, Porträts ohne Pose. Erstaunlich nah kommt Evans den Menschen, die nicht wissen, dass er den Drahtauslöser im Ärmel bedient.

Vielleicht sind diese Bilder Joyces Texten am ähnlichsten. Sie gleichen den wild ausgespuckten Sätzen, die gegen die Regeln der Syntax aufbegehren. Evans lehnte sich gegen die Regeln des fotografischen Porträts auf. Er sprach sogar von ästhetischem Protest. Seine Porträts haben immer etwas Intuitives, oft etwas Rätselhaftes und manchmal auch etwas unangenehm Eindringliches. Eine Aufnahme von 1930 zeigt die Fotografin Berenice Abbott, das Gesicht ist eng ins Bild gepresst, die Mundwinkel bilden eine unentschlossene Waagerechte, die feuchten Augen bohren sich bestimmt in den Blick des Betrachters. Durch Abbott stieß Evans auf die Pariser Stadtansichten von Eugène Atget und war überwältigt von der stilistischen Ähnlichkeit zu seinem eigenem Werk. Abbott hatte das Archiv des 1927 verstorbenen französischen Fotografen nach New York gebracht.

Evans’ formalistische Neugier entlud sich aber auch in streng sachlichen Studien. 1929  verbrachte er den Sommer auf dem Lande, wo sein Vater gärtnerte. Er fotografierte dessen Gladiolen vor monochromen Hintergrund im Hochformat, geradeso als führe er eine botanische Untersuchung durch. Dieses sachlich-analytische Vorgehen wandte Evans noch mehrere Male an, etwa beim Dokumentieren der Exponate der Ausstellung „African Negro Art“ des Museums of Modern Art oder für eine Reihe mit vom Zerfall bedrohten viktorianischen Häusern, die sein Förderer Lincoln Kirstein angeregt hatte. Evans nahm die Bauten frontal mit der Großformatkamera auf, von seitlich einfallendem Licht poetisch in Dämmerstimmung getaucht.

Außerhalb dieser Serien wirken Evans’ Fotografien oft ebenso bruchstückhaft wie die Gedanken von Joyces Protagonisten. In New York schoss er Ende der Zwanzigerjahre Details von Schiffen im Hafen oder von Schaufensterauslagen. Da stand er noch am Anfang seiner Karriere. Die Kamera schien er wie ein Notizbuch zu nutzen. Damals wollte Evans Schriftsteller werden. Er war gerade aus Paris zurückgekommen, wo er ein Jahr verbracht, sich mit französischer Literatur befasst und Schreibversuche unternommen hatte. Später, als er sich längst als Fotograf etabliert hatte, lernte er in Kuba, wo er für das Buch „The Crime of Cuba“ des linken Journalisten Carleton Beals unterwegs war, Ernest Hemingway kennen. Die beiden Männer verbrachten viele Abende miteinander und inspirierten sich gegenseitig.

An mehreren Universitäten hielt Evans einen Vortrag mit dem Titel „Lyric Documentary“. Der Begriff des Dokumentarischen sei ihm im Zusammenhang mit seinem fotografischen Stil zu vage, sagte er, deswegen bevorzuge er, ihn mit Lyrik zu verknüpfen. Selbst das Elend der notleidenden Landbevölkerung übertrug Evans in eine poetische Form, die frei von Sensationslust und Pathos ist. Bei Auftragsarbeiten sicherte er seine künstlerische Unabhängigkeit vertraglich ab. Bevor er für die von der Roosevelt-Regierung gegründete Farm Security Administration seine legendäre Dokumentation anpackte, ließ er „No politics whatever“ in den Vertrag schreiben. Evans war immer mehr Poet mit Kamera als Aktivist. Dass von seinen ikonischen Bildern aus diesem Auftrag, die das Gegenteil vermuten lassen könnten, kaum welche in der Schau zu sehen sind, ist nur konsequent.

Martin-Gropius-Bau, bis zum 9. November 2014