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Log in to Feel 02/2016, Springerin

Als digitale Prothese getragen ermöglicht ein im Mund angebrachtes „Patch“, die Gefühle anderer physisch mitzuerleben. Die ProtagonistInnen – etwa MitarbeiterInnen des fiktiven Herstellers „Development Affective Technology Inc“, AnwenderInnen, ein Geschäftsmann, der die Marktchance ausloten will, die sich aus Erweiterungen des Patches ergeben – bewegen sich durch eine an Stock-Bilder erinnernde, steril anmutende Welt, in der man sich ähnlich unwirtliche Stock-Gefühle ausmalt.

Inspiration für die Form fand Gilligan in den seit einigen Jahren so beliebten episch erzählenden TV-Serien, die in verschiedenen „Seasons“ eine zusammenhängende Geschichte vermitteln. Doch die Künstlerin fragmentiert die Dramaturgie nicht nur, indem sie ihre Handlung in Episoden unterteilt und Situationen zu einer komplexen Erzählung zusammenfügt. Sie präsentiert sie auf mehreren Bildschirmen, die in einer Installation an verschiedenen Armen einer Konstruktion hängen. Die Episoden laufen also nicht wie aus dem Fernsehen gewohnt nacheinander, sondern gleichzeitig. Die BetrachterInnen bewegen sich mit Kopfhörern – in gewisser Weise auch eine Prothese und Analogie zum Cyborg – von Bildschirm zu Bildschirm und müssen sich so aus den Fragmenten den Inhalt mühsam „erarbeiten“. Der Ton wird beim Verlassen und Betreten eines Bereichs vor einem Bildschirm zum störenden Rauschen: eine akustische Entsprechung des unheimlichen Moments, der Technologien wie diesem Patch anhaftet.

Das große Bild ist schwer erfassbar, es stellt sich ein Gefühl der Desorientierung ein, das vielen Menschen vertraut sein dürfte. Dass die Art der Installation die Fragmentierung der gegenwärtigen Lebenswelt durch Medien und ihre Vermittlung in Form von Applikationen, Smartphones, Tablets und anderen Geräten spiegelt, ist eine Stärke wie eine Schwäche der Arbeit. Sie verlangt den BetrachterInnen viel ab. In den Niederlanden wurden verschiedene Teile von „The Common Sense“ sogar an verschiedenen Orten gezeigt, bei Casco in Utrecht, De Hallen in Haarlem und De Appel in Amsterdam. Im Grazer Künstlerhaus, Halle für Kunst und Medien, waren alle Episoden zu einer Erzählung montiert. Dass dort gleich neben „The Common Sense“ auch Gilligans zusammen mit der KünstlerInnengruppe Wooloo entstandene Filmarbeit „Substitution“ (2014) mit ähnlichem Thema zu sehen war, nur eben schlicht auf Leinwand projiziert, erschwerte den Zugang zu der ohnehin ein wenig gewollt überkomplex daherkommenden dystopischen Sozialstudie.

Gilligan entwirft eine Zukunft, in der das Öffentliche und das Private, das Technologische und das Sinnliche ineinandergreifen, und Gefühle – vielleicht eine der letzten Bastionen des Analogen – von einer neoliberalen, digitalen Gesellschaft technologisch infiltriert und zum Handelsgut gemacht werden. Sie werden „vergemeinschaftet“ und so auch ausbeutbar. Der Cyborg macht Unternehmen effizienter. In „The Common Sense“ wird die allgegenwärtige Transparenz und Überwachung in die intime Welt der Gefühle und des Körpers verlagert. In einer Szene warnt ein Insert, ab diesem Tag müssten alle Angestellten Testversionen des Patches tragen, zu jeder Zeit. Beim Frühstück liest eine Angestellte auf einem Screen auf einer flachen Glasscheibe eine technisch formulierte Verwarnung von ihrem Chef: Ihre Leistung („performance levels“) sei inakzeptabel. Sie tröstet sich mit einer Erweiterung des Patches, die als Kommunikationskanal zwischen Mutter und ungeborenem Kind fungiert: „Loggen Sie sich ein, um die verjüngenden Gehirnströme ungeborenen Lebens zu fühlen“ steht nun auf ihrem gläsernen Tablet.

Mit solchen neuen Spielarten des Verhältnisses von Mensch und Technologie beziehungsweise Maschine setzen sich in der Gruppenausstellung „Nervöse Systeme“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt derzeit gleich mehr als 30 Arbeiten auseinander. Auch „The Common Sense“ ist dort vertreten. Die Frage danach, welche sozialen Veränderungen durch die Technologisierung und Vernetzung der Gesellschaft angestoßen werden und welche Rolle der Finanzkapitalismus dabei spielt, gehört schon jetzt zu den drängendsten Fragen der Gegenwart und ihrer Kunst.

Das Patch verändert allmählich das Leben der ProtagonistInnen, führt zu Vereinzelung und sozialer Isolation. Zwischenmenschliche Kommunikation ist vollends in technologische Abhängigkeit geraten. Als die Übertragung des Patches aussetzt, bricht Panik aus, die Nutzer „funktionieren“ nicht mehr. Nachdem sie das Patch solange getragen haben, können sie ohne es kaum mehr Gefühle artikulieren und emotional mit anderen interagieren. Und so kommt es zum Twist: Eine Gruppe junger Menschen will sich die Technologie aneignen und sie selbstbestimmt nutzen, um neue gesellschaftliche Utopien zu formulieren. Was wäre also wenn: das Patch Empathie auf eine neue soziale Stufe heben und das Zusammenleben positiv verändern könnte?

Melanie Gilligan: The Common Sense / Substitution

Künstlerhaus, Halle für Kunst & Medien, Graz, 30.1. – 3.3.2016