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Korrektur der Perspektive 03/2014, Photonews

Eine Gruppenschau in der Akademie der Künste geht der Frage nach, wie die Fotografie die Skulptur veränderte

Drei Fotos von einem Stück Stoff machen, das von einem mechanisch erzeugten Luftzug bewegt wird: eine Idee, die Marcel Duchamp vor 100 Jahren notierte. Was ihm vorschwebte war mehr als ein Bild, ein Hybrid aus Fotografie und Skulptur, eine „lens-based sculpture“, wenn man so will. Diesen Begriff führt eine Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste jetzt in die Kunstgeschichte ein. Mit 200 Arbeiten von über 70 Künstlern geht sie der Frage nach, wie die Fotografie die Skulptur verändert hat. Zu sehen sind Werke mit skulpturalem Charakter, zum Beispiel auch Duchamps Readymades „Roue de bicyclette“ (1913), eine auf einem Holzschemel fixierte Fahrradfelge, und „Porte bouteilles“ (1914), ein Gestell zum Trocknen von Flaschen.

Es war die Fotografie, die den Dada-Künstler dazu bewegte, die Skulptur vom Sockel zu befreien. Ende des 19. Jahrhunderts entstehen Étienne-Jules Mareys Chronofotografien: Mit speziellen Apparaturen hält er Bewegungsabläufe fest, zum Beispiel die eines Stabspringers oder eines Pelikans im Landeanflug. Auch die Fahrradfelge gehört zu seinem Repertoire. Die Phasen der Bewegung zeigt er in einem einzigen Abzug und macht so sichtbar, was das Auge allein nicht sehen kann. Marey lässt etwa einen metallischen Halbkreis um eine senkrechte Achse rotieren, fotografiert die Bewegung und erzeugt so das virtuelle Bild einer Kugel.

Zwischen der zweiten und der dritten Dimension wird nach Mareys Experimenten viel passieren. Das fotografische Bild wird bald bewegt, projiziert, kontextualisiert, archiviert, raumgreifend installiert, schließlich digitalisiert und in neue Medien überführt. Ähnliches erlebt die Skulptur. Der von Duchamp eingeleitete Paradigmenwechsel in der bildenden Kunst nimmt ab den 1960er-Jahren erst richtig Fahrt auf, als Künstler sich von traditionellen Formaten verabschieden. Bruce Nauman, Valie Export, Ana Mendieta und andere inszenieren ihre Körper als skulpturale Selbstbilder, festgehalten auf Film und Negativ. In ihrer Serie „Untitled (Glass on Body Imprints)“ aus dem Jahr 1972 presst Mendieta Teile ihres Körpers gegen eine Glasscheibe, die sie in den Händen hält. Sie malträtiert ihren Körper und „zerstückelt“ ihn in mehrere Fotografien. Wie andere feministische Künstlerinnen in dieser Zeit bearbeitet Mendieta die Themen Gewalt und Missbrauch. Durch die Fixierung performativer Momente mit der Kamera werden die Arbeiten zu plastischen Ereignissen.

In seiner Arbeit „Perspective Correction“ verbildlicht der niederländische Konzeptkünstler Jan Dibbets 1968 das Spannungsverhältnis zwischen der physikalisch-visuellen Erfassung eines Sujets und der Interpretation durch das Gehirn. Zu sehen ist ein rechtwinkliges weißes Quadrat mit einem Kreuz in der Mitte. Die geometrische Figur liegt auf einem Rasen, der im Hintergrund von Büschen und Bäumen gesäumt ist. Der Betrachter will nicht so recht glauben, was er da sieht. Denn die Seiten des Quadrats, so will es das Gehirn, müssten eigentlich mit der Perspektive nach hinten fliehen.

Dibbets hat das Quadrat nicht etwa nachträglich appliziert, die Fotografie ist das Ergebnis genauer Berechnungen. Neben dem Bild hängen Notizen mit schriftlichen Gleichungen. Der Künstler liefert ein Korrektiv der Perspektive und stellt so das indexikalische Verhältnis von Fotografie und Abgebildetem in Frage, das der Zeichentheoretiker Charles Sanders Peirce um 1900 beschrieb. Für ihn war die Fotografie eine Spur der Realität. Die physikalische Wirkung des Lichts stelle beim Belichten eine Eins-zu-eins-Korrespondenz zwischen den Teilen des Fotos und den Teilen des Objekts her, schrieb er. Eine Vorstellung, die bis heute Stoff für die Auseinandersetzung mit dem Wesen der Fotografie liefert.

Ab den 1980er-Jahren entdecken Künstler Film- und Fototechnik als bildhauerisches Rohmaterial, verwandeln Kameras, Objektive und Projektoren in spielerische Skulpturen. Für ihre 2012 entstandene Arbeit „Boundaries of Consumption“ lässt die Künstlerin Rosa Barba leeren 16mm-Film, der nur hin und wieder ein flächig gefärbtes Einzelbild enthält, durch einen am Boden stehenden Projektor laufen. Das Gerät hat sie auseinander genommen und in der Mitte Filmdosen platziert. Darauf rollen zwei Metallkugeln hin und her, bewegt durch den laufenden Film. Die Projektion rattert, zeigt hin und wieder aufblitzende Farbflächen und die Schatten der rollenden Kugeln. Barba macht die gestalterischen Elemente Licht, Schatten und Bewegung selbst zum Sujet.

Wie die durch massenhafte Vermarktung von Kleinbildkameras erzeugte Flut an Momentaufnahmen den künstlerischen Blick im 20. Jahrhunderts prägte, zeigen die hyperrealistischen Skulpturen von Duane Hanson: Sein lebensgroßer „Man with Camera“ von 1991 sitzt in der Ausstellung auf einem Stuhl, mit Hawaiihemd, Hornbrille, schütterem Haar, Kamera in der Hand und Koffer neben sich, es sieht so aus, als hätte ihn eben jemand in einer Flughafenhalle fotografiert. Auch Karin Sander schafft Skulpturen auf Grundlage optischer Daten, dafür arbeitet sie mit 3D-Bodyscans und 3D-Druckern. Ihre 2012 entstandene Figurengruppe „Familie Sykes“ ist in Grautönen gehalten und wirkt wie eine plastifizierte Schwarzweiß-Fotografie.

Mit der Ausstellungsarchitektur betonen die Künstler Bogomir Ecker und Raimund Kummer, die auch Teil des Kuratoren-Teams waren, den Werkstattcharakter des Projekts: Unterschiedlich konstruierte Stellwände und Podeste schaffen eine diffuse, erweiterbare Ordnung, Ansammlungen von Bildern, Filmen und Notizen legen den Rechercheprozess offen. Die Evolution der Fotografie und die der Skulptur sind eng miteinander verzahnt, so viel ist klar nach dem Parcours. Durch die Verknüpfung beider Sphären kann die Schau mehr als eine reine Fotografie-Ausstellung: Sie zeigt nicht nur, welchen Blick die Fotografie auf die Welt ermöglicht, sondern wie der fotografische Blick sie durchdringt und transformiert.

 

„lens-based sculpture – die Veränderung der Skulptur durch die Fotografie“, Akademie der Künste, Berlin, bis 21.04.2014