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Im virtuellen Reagenzglas 01/2014, TAZ

Angela Bulloch stellt in der Galerie Esther Schipper eine neue Werkserie vor

Rechteckige Filz- und Plastikmatten hängen übereinander an den Wänden, darauf sind abstrakte Muster gedruckt. Am oberen Rand eines raumhohen Filzvorhangs simulieren LED-Leuchten einen Sternenhimmel. Im Raum verteilt stehen fast mannshohe Skulpturen, dreidimensionale Varianten der Muster. In monatelanger Arbeit setzte Angela Bulloch am Computer geometrische Figuren für ihre neue Werkserie zusammen, aus Quadraten und Rhomben mit teils unterschiedlich langen Seiten, so dass sich Verzerrungseffekte einstellen. Befremdlich mutet diese durchgestaltete Welt an, die ihren eigenen Regeln folgt.

Ein Avatar führt in die Ausstellung ein. Auf einem Tabletcomputer begrüßt er die Besucher. Es ist der digitale Stellvertreter einer Galerie-Mitarbeiterin, die jeden Moment um die Ecke kommen könnte, in Fleisch und Blut, um genau das zu erzählen, was der Besucher gerade vom Avatar erfährt. Bullochs Arbeit spiegelt eine Gegenwart, in der Daten die physische Welt durchwirken, und in der Menschen sich so natürlich durchs Virtuelle bewegen, wie durch einen Park an einem sonnigen Tag. Es wirkt fast so, als hätte man irgendwelchen Avataren die gerenderten Kleider vom digitalen Leib gerissen und darunter diese eckigen Skulpturen entdeckt.

„In Virtual Vitro“ heißt die Schau, ein Bild, das zur postdigitalen Gegenwart passt: Im virtuellen Reagenzglas werden Identitäten und Infrastrukturen reproduziert und längst auch produziert. Das Raumgefüge hat sich mit der Digitalisierung verschoben. Und wo steht der Mensch? Eine Software hat die astronomisch korrekten Sternenkonstellationen, die schon in Bullochs Serie „Night Sky“ auftauchten, berechnet, und zwar je nach Perspektive, zum Beispiel gesehen vom Mars oder von der Venus aus. Die geozentrische Perspektive erscheint nur noch als eine von vielen. Das Menschsein, das Sehen und das Handeln sind in Abhängigkeit von dem geraten, was Rechner ausspucken.

Für die digitale Bildgenese interessiert sich Bulloch schon länger. In den Neunzigern entwickelte sie ihre Pixelboxen, quadratische hockergroße Elemente, die sich auf die kleinste digitale Bildeinheit beziehen und Farben wie Computer aus Rot, Grün und Blau mischen und ausgeben. Bulloch arrangiert die leuchtenden Kisten zu verschiedenen audiovisuellen Installationen, die etwa Filmsequenzen wiedergeben. Durch den Effekt der gigantischen Verpixelung entlarvt sie die Konstruktion.

Nach dem Studium am Londoner Goldsmiths College wurde die gebürtige Kanadierin Ende der Achtziger Teil der „Young British Artists“, einer Generation junger Künstler, die gefördert von Sammler-Guru Charles Saatchi den internationalen Kunstmarkt eroberte. Mit ein paar älteren Arbeiten gibt die Schau Einblick in die Evolution von Bullochs künstlerischem Interesse. Neben „In Virtual Vitro“ sind zwei Pixelboxen zu sehen, außerdem eine von Bullochs „Drawing Machines“, die auf Grundlage eingespeister Musikdaten Zeichnungen anfertigen. Besucher können sich Platten mit elektronischer Musik und Noise-Stücken anhören, die für frühere audiovisuelle Arbeiten entstanden sind und die Bulloch heute in ihrer Wahlheimat Berlin auf einem eigenen Label produziert. Der Mensch findet dann doch noch seinen Platz: auf einem von Bullochs „Happy Sacks“, einem großen weichen Sitzsack, in den er sich plumpsen lassen kann, um dort in aller Gemütlichkeit über den digitalen Zeitenwandel nachzudenken.

 „In Virtual Vitro“, Galerie Esther Schipper, 24. Januar bis 1. März