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Ich schaffe an 04/2013, dienacht

Nach 45 Jahren ist „Portait of Jason“ in vollständig restaurierter Fassung wieder auf der großen Leinwand zu sehen. Das Werk der amerikanischen Underground-Filmemacherin Shirley Clarke wird damit neu entdeckt.

Jason Holliday ist schwarz und schwul. Damit kann er nur am Rand der US-amerikanischen Gesellschaft der 1960er existieren. Doch Shirley Clarke rückt ihn 1967 für „Portrait of Jason“ ins Rampenlicht. Er spielt die Rolle seines Lebens, im doppelten Sinne. Zu Jason Holliday hat Aaron Payne, so sein Geburtsname, sich selbst gemacht. Diesen Holliday hat er mit einer glamourösen und clownesken Schale versehen, mit der er den Widrigkeiten seiner Existenz als sozial schwacher, schwuler Afroamerikaner trotzen kann. Clarke wird sie in ihrem Porträt unbarmherzig dekonstruieren. Zwölf Stunden lang drehen sie in ihrem Apartment im New Yorker Chelsea Hotel. Viel Zeit geht für das Wechseln der 16-mm-Filmrollen drauf. Ein großer Teil des aufgenommenen Schwarzweiß-Materials wird – minimalistisch montiert – zum Film: 105 Minuten einer grandiosen Solo-Performance, in der Jason trinkend und kiffend aus seinem Leben erzählt, den Blick direkt in die Kamera gerichtet, als würde er Small Talk auf einer hippen Szeneparty führen. Er trägt ein Jackett, ein weißes Hemd und eine große Hornbrille mit kreisrunden Gläsern. Was er beruflich mache, fragt ihn Clarke gleich zu Beginn. „Ich schaffe an,“ erwidert er.

Zur Uraufführung kommen Protagonisten der Underground-Szene wie Andy Warhol und Jonas Mekas, mit dem Clarke in New York die „Film-Makers Cooperative“ und das „Film-Makers Distribution Center“ gegründet hat, um für unabhängige Filmemacher eine Infrastruktur zu schaffen. Der Indie-Film ist längst zur Bewegung geworden, 1960 riefen 23 Künstler das „New American Cinema“ aus. Clarke war die einzige Frau unter ihnen. Neben Kollegen wie Maya Deren, Kenneth Anger oder Stan Brakhage gehört sie zu einer Generation junger Filmemacher, die sich zu Chronisten einer von sozialem Aufruhr, sexueller Befreiung, Heroin, LSD, Cool Jazz und künstlerischer Experimentierfreude geprägten Zeit machen. Sie setzen sich vom Hollywood-Mainstream ab, greifen Ästhetiken auf, die aus Europa über den großen Teich schwappen, kämpfen gegen konservative Ordnungen und Zensur.

Jason ist wie die viel bekanntere Warhol-Muse Edie Sedgwick „It-Girl“ der queeren Szene. Doch er ist alles andere als das „Poor Little Rich Girl“ (1965), das Warhol in seinen Filmen porträtiert. Mit quietschiger Stimme erzählt er eine Anekdote nach der anderen, produziert Kalauer am laufenden Band, lacht und schreit, erzählt, wie er als Heiratsschwindler oder Dienstmädchen älterer weißer Upper-Class-Damen seine Brötchen verdient hat. Die führen den quirligen jungen Mann auf Partys gerne ihren Freundinnen vor, bevor er wieder in die Küche muss. Jason quasselt immer fort, angestachelt von Clarkes Fragen. Wenn er gerade einen Joint geraucht hat, sind die Augen so geschwollen, dass er sie kaum aufbekommt. Dann scheint er zu sich selbst zu sprechen, als ob er sich mit seinen eigenen Geschichte trösten wolle.

Zur Ästhetik des Films gehört auch, was hinter der Kamera vor sich geht. Neben einer kleinen Crew sind da Shirley Clarke und ihr Liebhaber Carl Lee, ein afroamerikanischer Schauspieler. Sie stellen immer bohrendere Fragen, geben Jason Anweisungen. Die Spannung zwischen Lee und Jason, der in ihn verknallt gewesen sein soll, ist deutlich zu spüren. Die Stimmen werden lauter, Lees Fragen brutaler, Jasons Kommentare sarkastischer. Der Alkoholpegel scheint auf beiden Seiten zu steigen, Jason jedenfalls leert zügig die Flasche in seiner Hand. Der Dreh spitzt sich zur Hetzjagd zu, nach noch mehr Offenbarungen, noch intimeren Einblicken in Jasons Leben. Wie sensationsheischende Journalisten drängen Clarke und Lee Jason in die Ecke. Der Zuschauer, der Jasons Seelenstriptease gierig konsumiert, wird zum Mittäter einer filmischen Vergewaltigung. Schicht für Schicht scheint sich Jasons Rolle abzutragen, hinter der kapriziösen Selbstinszenierung kommt ein nackter Mensch zum Vorschein, der nur geliebt werden will.

Doch was hier Rolle ist, und was wirklich, bleibt offen. Genau diesen Grenzgang erforscht Clarkes filmisches Essay. Bei einer Vergrößerung der Flasche, aus der Jason trinkt, erkennt man ein Scotch-Label, der Inhalt aber ist viel heller als er sein dürfte. Doch nur Wasser? Wir wissen es nicht. Diese unscharfe Grenze zwischen Inszenierung und Dokumentation macht den Reiz aus. In einer Reihe von Filmen, die Clarke in den 1960er Jahren dreht, lotet sie das Potenzial des Dokumentarfilms aus, lenkt die Aufmerksamkeit auf Schnitt, Kamera, Präsenz der Crew. Die Ästhetik von „Portrait of Jason“ ist vom französischen Cinéma Vérité inspiriert, einer selbstreferentiellen Form des Dokumentarfilms. Clarke sucht in dieser Nacht im Chelsea Hotel nach der Wahrheit vor der Kamera.

Der Film begeisterte Künstler wie John Cassavetes und Ingmar Bergman, der sogar sagte, „Portrait of Jason“ sei der außergewöhnlichste Film, den er je gesehen habe. Das Originalmaterial ging vor über 45 Jahren verloren. Jetzt bringt eine restaurierte Kopie des Films Jason wieder auf die große Leinwand, Premiere feierte die Fassung dieses Jahr bei der Berlinale. Dennis Doros und Amy Heller setzen sich mit dem „Shirley Clarke Project“ ihres Unternehmens Milestone Films für die Erhaltung ihres Werks ein. Schon restauriert haben sie ihren Spielfilm „The Connection“ (1961), es folgen noch „Robert Frost: A Quarrel with the World” (1963) und ihr Dokumentarfilm über den Jazz-Saxophonisten Ornette Coleman „Ornette: made in America“ (1985). Alle sollen auch auf DVD erscheinen. Clarkes Vermächtnis als Pionierin des amerikanischen Indie-Films wird dank Doros’ und Hellers Engagements jetzt neu diskutiert.

Von ihrem eigenen Leben unterscheidet sich Clarkes filmisches Werk, das sich um Randgestalten der Gesellschaft, Afroamerikaner und Drogenabhängige dreht, stark. Als Tochter einer reichen weißen Mittelklasse-Familie war sie allenfalls Beobachterin ihrer Sujets. 1961 etwa drehte sie „The Cool World“ in Harlem, einem der Hauptschauplätze der Bürgerrechtsbewegung. Sie fühlte sich den Ungerechtigkeiten, die der schwarzen Bevölkerung widerfuhren, nahe. Als Filmemacherin zwischen Männern wurde auch sie marginalisiert. In einem Interview sagte sie, erst mit dem Aufkommen der Frauenbewegung und der feministischen Kunst in dieser Zeit habe sie erkannt, wie sehr klassische Rollenbilder ihr Denken beeinflusst hätten, dass sie geglaubt habe, als Filmemacherin sei ihr Werk wertlos. Tatsächlich geriet sie als Künstlerin lange Zeit in Vergessenheit, obwohl sie ihre Filme auf bedeutenden Festivals präsentierte und zahlreiche Preise erhielt. Ein Stück weit spiegelt sie sich selbst in Jason, dem ein gesellschaftlicher Aufstieg versagt blieb. Sie habe ihn und seine Geschichten schon lange vor dem Film gekannt, sogar verabscheut, erzählte sie, aber erst durch den Film habe sie ihn wirklich kennen und lieben gelernt. Am Ende sitzt Jason besoffen, bekifft und erschöpft auf dem Boden ihres Appartments. So würdevoll, wie es wohl kaum jemand anderes in diesem Zustand könnte.