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Die Sixtinische Kapelle der Videokunst 05/2014, TAZ

Man erkennt ihn zuerst am Hut. Doch er wird sich noch mehrmals zur Kamera drehen. Auf den flackernden Schwarzweiß-Aufnahmen aus dem Jahr 1977 ist Joseph Beuys zu sehen. Er baut gerade zusammen mit seinem Galeristen René Block das Werk „Richtkräfte einer neuen Gesellschaft“ im Foyer der Berliner Nationalgalerie auf. Die Arbeit ist mühsam, auf 100 Schiefertafeln hat der Künstler mit Kreide Überlegungen zu Kunst und Gesellschaft notiert. Dann sieht man Beuys, wie man ihn nicht kennt. Er fährt die anwesenden Journalisten an, „als wäre er Klaus Kinski“, sagt Dorcas Müller, dreht auf dem Absatz um und lässt sie stehen, um weiterzumachen. Müller hat jede Minute genau studiert. Sie ist Verantwortliche des Labors für Antiquierte Videosysteme im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM). Dort restauriert und digitalisiert sie seit 2004 Jahrzehnte alte Videos wie dieses. Es geht um viel: Die Magnetbänder zersetzen sich, kompatible Abspielgeräte sind kaum mehr aufzutreiben.

Was nicht in Karlsruhe landet, ist wahrscheinlich für immer verloren. Das Labor ist weltweit einzigartig. Initiiert hat es Videokünstler und ZKM-Direktor Peter Weibel. Er spricht von einer Arche Noah. Auf mehreren Metern lagern hier ganze Sammlungen künstlerischer Videoarbeiten, außerdem Dokumentationen von Aktionen und Performances. Spulen und Videokassetten stapeln sich in den Regalen, viele sind liebevoll von Hand beschriftet. Techniker, Programmierer und Medienhistoriker bergen hier einen der größten Schätze der jüngeren Kunstgeschichte. Es ist das erste Kapitel, das von einer obsoleten Technik abhängt. Steina und Woody Vasulkas gesamtes Frühwerk wird hier zum Beispiel bearbeitet. Das Paar experimentierte mit dem Medium, manipulierte Bilder mit Video-Synthesizern und baute in New York die erste Szene mit auf. Häuser wie das New Yorker Museum of Modern Art oder das Pariser Centre Pompidou lassen in diesem Labor wertvolle Stücke aus ihren Sammlungen restaurieren.

Auch das Archiv des 2003 verstorbenen Videokünstlers und Auftragsfilmers Michael Geißler mit 250 Produktionen wird hier wieder zum Leben erweckt. Er hatte Beuys in Berlin aufgenommen, am Ende waren es mehrere 40-Minuten-Bänder. Geißler hatte ein Gespür für historische Momente. Er war 1974 mit der Videokamera dabei, als die Sängerin Nico ihr umstrittenes Album „The End“ bei einem Konzert in der Berliner Nationalgalerie vorstellte und die deutsche Nationalhymne im Originaltext sang. Bevor Nicos Gesicht bildschirmfüllend auf einem der alten Monitore im Labor auftauchte, dachte man, davon gäbe es gar keine Aufnahme. Regisseurin Susanne Ofteringer hatte für ihren 1995 veröffentlichten Film „Nico Icon“ vergeblich danach gesucht.

Eine „Sixtinische Kapelle der Videokunst“ sieht der Künstler Gerd Conradt in dem Labor. Er brachte seine Spulen und Kassetten persönlich nach Karlsruhe. Statt Botticelli und Michelangelo heißen die Künstler hier Ulrike Rosenbach oder Nam June Paik. Um ihre Meisterwerke wieder sichtbar zu machen, reinigt Dorcas Müller die alten Videobänder erstmal. Hört sie ein Quietschen, wenn sie über die Videokopftrommeln laufen, weiß sie: Die Bänder sind verklebt und die Zersetzung ist weit fortgeschritten. Dann muss sie Feuchtigkeit raus, deswegen backt Müller sie für mehrere Stunden „wie Kekse“ in einem Spezialofen. Aber nicht nur der Zustand der Bänder ist ein Problem. Woher die alte Abspieltechnik nehmen?

Mitte der Sechziger Jahre kommen die ersten Videosysteme für den Privatgebrauch auf den Markt. Die deutsche Zeitschrift „Hobby. Das Magazin der Technik“ schreibt im Sommer 1965: „Der verblüffende japanische Sony-Videorecorder zeichnet Bild und Ton auf Band auf (das wieder gelöscht werden kann) und ermöglicht so eigene Fernsehsendungen“. Zuvor war die Magnetbandtechnik vor allem dem Fernsehen vorbehalten und wurde in kleiderschrankgroße Kisten montiert. Nam June Paik ist einer der ersten Künstler, die sich einen „Sony Videocorder TCV-2010“ kaufen. In einem dunkelbraunen Holzgehäuse sind ein Videorekorder und ein kleiner aufklappbarer Schwarzweiß-Fernseher untergebracht. Eine Kamera macht das Set komplett. Die Geschichte ist legendär: Paik verfrachtet das immerhin noch 35 Kilo schwere, koffergroße Gerät auf ein Taxi, versorgt es über den Wagen mit Strom – noch hat es keine Batterie – und nimmt Menschenmassen in den Straßen New Yorks auf. An diesem 4. Oktober 1965 ist der Papst in der Stadt. Noch am gleichen Abend klappt Paik das Gerät im Szenecafé „Au Go Go“ in Greenwich Village auf und führt eines der ersten Videokunstwerke der Welt vor. Es gilt als verschwunden.

Ein Videorekorder, den man sich um die Schulter hängen kann, folgt 1967. Der erste „Portapak“ von Sony wiegt nur noch sechs Kilo, auf einer Spule können 20 Minuten aufgenommen werden. Zum Mythos wird der zweite „Portapak“. Er kommt 1971 auf den Markt und bringt eine ganze Generation von Videokünstlern auf die Welt. Ihre Arbeiten sind schon kurze Zeit später umfangreich auf der Documenta vertreten. Ein Boom beginnt. Bald wird die offene Spule durch das Kassettenformat abgelöst. Video-Equipment wird immer billiger, mehr Hersteller drängen in den Markt. Ein halbes Jahrhundert später wühlen sich Medienarchäologen wie Dorcas Müller durch Berge obsoleter Technik. 50 Videoformate der Sechziger, Siebziger und Achtziger können im ZKM schon abgespielt werden, über 300 Geräte hat das Team dafür gesammelt. Damit ist das Labor für antiquierte Videosysteme längst selbst zum Ausstellungsort geworden, jede Woche kommen Gäste und machen Führungen mit.

Warum wurden überhaupt so viele Kunstwerke in Kellern und auf Dachböden abgestellt und vergessen? Das hat vor allem mit dem Anerkennungskampf der Videokunst zu tun, der sich auch tief in die Szene fraß. Von Anfang an waren Bild- und Tonqualität schlecht. Doch auch inhaltlich habe das Medium zu Beginn der Achtziger nicht mehr zu überzeugen vermocht, schreibt Medienhistoriker und Kurator Christoph Blase im Katalog zu „Record Again! – 40jahrevideokunst.de – Teil 2“, einem Ausstellungsprojekt mit in Karlsruhe restauriertem Material. Im Gegensatz zur Fotografie habe man die Haltbarkeit als äußerst fragwürdig eingestuft, so Blase weiter, die plötzlich aufkommenden Videotheken mit ihren Unterhaltungsprogrammen hätten kaum intellektuelle Schichten angesprochen. Galerien, Sammler, Institutionen und selbst Künstler hätten das Interesse am frühen Video verloren. Das Material sei ungesichert, nicht kopiert und oft uninventarisiert in Pappkartons gewandert.

Daran, dass diese Videokunstwerke schützenswert sind, besteht heute kein Zweifel mehr. Ihre Haltbarkeit ist aber selbst nach der Digitalisierung noch ein Problem. Serversysteme sind für die Speicherung nur bedingt sinnvoll, sie benötigen viel Strom und sind störanfällig. Müller schreibt die Daten unkomprimiert auf neue Magnetbänder, gespeichert werden sie mit einem Open-Source-Code. Ein Programmierer des ZKM hat die Speicherkonfiguration selbst entwickelt und jeden Schritt genau dokumentiert, damit auch in zwanzig Jahren noch alles ausgelesen werden kann. „Industrie-Codes können verschwinden, wenn eine Firma pleite geht“, sagt Müller. Zur Sicherheit lagern die Bänder je einmal in einem gekühlten Raum des Labors und in einem externen Depot. Damit ist die Arbeit aber nicht getan. Denn auch digitale Medien und Abspielgeräte werden durch immer neue ersetzt. Also heißt es: umkopieren, umkopieren, umkopieren. Der Paradigmenwechsel zum HD-Video brachte eine neue Bildschirmauflösung. Müller seufzt: „Wir müssen jetzt auch Computer sammeln, damit wir das Videoformat 4:3 noch lange verarbeiten können“. Die Retter sind im Loop gefangen.