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Das Gespenst des Kapitals 06/2015, goethe.de

Mit zeitgenössischer Kunst aus Deutschland tourt „Future Perfect“, die aktuelle Ausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa), durch die Welt. 2015 ist sie im brasilianischen Porto Alegre zu Gast. Goethe.de sprach mit Kuratorin Angelika Stepken über künstlerische Konzepte und Positionen.

SW: Frau Stepken, der Titel lässt vermuten, es ginge in der Ausstellung um Zukunftsvisionen. So ist es aber nicht. Worum geht es stattdessen?

AS: Der Titel funktioniert wie eine Falle. Mit Future Perfect beziehen wir uns auf die grammatikalische Form der vollendeten Zukunft: Etwas wird gewesen sein. Ich habe 2011 zusammen mit Philipp Ziegler angefangen, die Ausstellung zu planen. Das war mitten in der Finanzkrise. Wichtige Impulse gab uns das 2010 publizierte Essay Das Gespenst des Kapitals des Kulturwissenschaftlers Joseph Vogl. Darin zeichnet er historisch nach, wie Strukturen des Finanzkapitals bestimmte Denkstrukturen hervorbringen. Sein Fazit: Was morgen ist, wird schon heute bewertet, so funktioniert Spekulation. Im übertragenen Sinne kann das als permanente Konsumption von Zukunft in der Gegenwart verstanden werden. Das wurde zum Ausgangspunkt für unser Konzept.

SW: Wie knüpfen die Künstlerinnen und Künstler an diese Überlegungen an?

AS: Die Positionen spielen auf unterschiedliche Weise auf die Idee der vollendeten Zukunft an. In dem Film Die Probe zeigt Clemens von Wedemeyer eine Szene während einer Wahlveranstaltung. Der Kandidat probt hinter der Bühne seine Rede, weicht vom Text ab und propagiert den Generalausstieg aus alten politischen Konzepten. Ob er sich vor den Wählern korrigieren wird, bleibt offen. Wedemeyer wirft damit Fragen auf wie: Sind Veränderung und radikale Politik heute noch möglich?

SW: In der Kunst wird Zeit oft zum ästhetischen Mittel. Wie setzen die Künstler es ein?

AS: Wedemeyers Film läuft im Loop, so setzt er die Zukunft aus. Film kann Zeit reversibel machen. Jemand kann erschossen werden und wieder aufstehen. In einer Sound-Installation verkehrt Dani Gal Conversations Regarding the Future of Architecture in eine Architecture Regarding the Future of Conversations. Auf zwei Plattenspielern läuft je die A- und B-Seite einer Langspielplatte mit Reden von Architekten aus den 1950er-Jahren. Wenn sich Besucher nähern, ändern sich Lautstärke und Geschwindigkeit. Nicht mehr die Architekten geben den Ton an, sondern die Besucher, denn sie beeinflussen die Aufnahme bis hin zur Unverständlichkeit.

SW: Viele der Werke nehmen Vergangenes neu in den Blick. Ist das auch eine Form der Annäherung an die Zukunft?

AS: Wir haben uns gefragt: Was bewegt uns, wenn wir keinen Zukunftsentwurf vor Augen haben? Die Künstler schaffen mit diesen Arbeiten Momente der Aktivierung in der Gegenwart. Nasan Tur hat einen ganz konkreten Ansatz: Er bietet verschiedene Rucksäcke mit Utensilien an, die Besucher ausleihen können, um sie im öffentlichen Raum zu nutzen, zum Beispiel zum Kochen oder zum Demonstrieren.

SW: Werden die Arbeiten in einem internationalen Kontext anders gelesen?

AS: Nach unserem Start in Frankfurt im Sommer 2013 war unsere zweite Station Warschau. In den beiden Städten fielen die Reaktionen ähnlich aus, schon durch die Nähe der deutschen und polnischen Kunstszene. Überrascht hat uns dann unser Aufenthalt in Kaliningrad. Hier hatten wir es mit einem sehr jungen und diskussionsbereiten Publikum zu tun. Aufgrund der aktuellen Gesetzgebung in Russland war der Zutritt allerdings erst ab 16 Jahren erlaubt.

SW: Warum das?

AS: Der dänische Künstler Henrik Olesen ist mit einem Collagen-Zyklus über den Mathematiker Alan Turing in der Ausstellung vertreten. Dieser entwickelte den binären Code für die Computersprache und scheiterte selbst an einer binären gesellschaftlichen Logik: Wegen seiner Homosexualität wurde er mit Hormonen zwangsbehandelt und nahm sich das Leben. Für die russischen Behörden waren diese Collagen „obszöne Elemente“, deshalb die Altersbeschränkung.

SW: Die Ausstellung zeigt viele Arbeiten ausländischer Künstler, die in Deutschland leben. Wie setzen sie sich mit deutschen Themen auseinander?

AS: Sie erzählen deutsche Geschichten aus einer anderen kulturellen Perspektive. Der Grieche Yorgos Sapountzis etwa beschäftigt sich in der auf Video dokumentierten Performance Fast Cast Past mit zwei Skulpturen des Bildhauers Richard Scheibe, der sowohl von den Nazis als auch in der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Aufträge erhielt. Eine der Skulpturen verkörpert einen faschistischen „Herrenmenschen“, die andere erinnert an den deutschen Widerstand im Nationalsozialismus. Sapountzis begegnet diesen harten Körpern mit weichen Tüchern und seinem eigenen lebendigen Körper.

SW: „Lebt und arbeitet in Berlin“ ist zum Markenzeichen geworden. Wie wirkt sich der Zustrom von Künstlerinnen und Künstlern aus aller Welt in Deutschland aus?

AS: Die Kunstproduktion in Deutschland hat sich nach 1989 geöffnet, zum Beispiel für postkoloniale Fragen. Vor allem Künstler, die aus nicht europäischen Ländern nach Deutschland kommen, werfen solche Fragen auf, so auch die Mexikanerin Mariana Castillo Deball. Deutschland bringt heute transnationale Kunst hervor. Ich denke etwa an die Arbeit We are the people von Danh Vo, der mit fünf Jahren als Bootsflüchtling aus Vietnam in Dänemark landete. Er reproduzierte die New Yorker Freiheitsstatue in Originalgröße und zerlegte sie dann in Stücke, zwei davon sind in der Ausstellung zu sehen. Diese Fragmente bergen beides: den Traum von Freiheit und dessen Scheitern.