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Embedded Bloggers: Erfahrungen bei Ehud Darashs „Constructing Resilience” 08/2012, Tanz im August-Blog

In den vergangenen Tagen bin ich mit einem Kaffeebecher in der Hand kreuz und quer durch die Stadt gerast und so viel U-Bahn gefahren, dass die Berliner um mich herum zu einer hektisch wabernden Menschenmasse geworden sind, in der ich kaum noch Gesichter ausmache – geschweige denn wahrnehme, ob mir auf dem Weg irgendetwas Besonderes begegnet ist. Als ich in den Sophiensaelen um zehn Uhr mit rund 25 Leuten in einem großen Kreis stehe und genau diese Frage beantworten muss, fällt mir nichts ein.

Wir treffen uns hier mit Ehud Darash. Es ist einer von vier „Open Days” im Rahmen seines Projekts „Constructing Resilience“. Darin analysiert er die Ästhetik von Demonstrationen als performativen Akt und extrahiert Strategien, um daraus wieder neue Performances zu kreieren. Offen sind die Tage, weil neben einer Kerngruppe junger Performer auch Interessierte teilnehmen können. Meine Kollegin Katja Grawinkel und ich machen mit: Wir wollen nicht nur über Kunst schreiben, wir wollen sie erleben – als Embedded Bloggers.

Inspiriert zu „Constructing Resilience“ haben Darash Protestbewegungen wie Occupy oder die Demonstrationen in Israel im Sommer 2011: Hunderttausende gingen damals für bessere soziale Bedingungen auf die Straße, das hatte es dort nie zuvor gegeben. Auf die Straße werden auch wir heute gehen. Und tun, was Darash mit einer Gruppe Performer bereits in Tel Aviv, Jerusalem und New York gemacht hat: Wir werden ganz langsam gehen und uns schließlich ebenso langsam fallen lassen, draußen, auf der großen Bühne, in der Stadt, im öffentlichen Raum. Doch vorher steht hier in den Sophiensaelen Aufwärmen an.

Sich-Einlassen auf die Performer-Perspektive heißt für uns jetzt erstmal: hüpfen, Laute tief aus dem Bauch heraus pressen, mit den Armen schlackern, über den schwarzen Tanzboden robben – buchstäblich locker machen. Darash leitet uns an. Ich bin heilfroh, Stellungen wie die Kobra aus dem Yoga zu erkennen und sie zu meistern. Hätte ich keine Röhrenjeans an, würde ich zwischen den biegsamen Tänzern hier kaum auffallen. Verraten tut mich dann vielleicht auch noch, dass ich als letzte noch meine Sneakers anhabe, da habe ich wohl was verpasst.

Ein paar Minuten später sitze ich barfuß mit drei anderen Teilnehmern Rücken an Rücken und mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Lea Moro und Laura Unger, Künstlerinnen aus Darashs Kerngruppe, haben sich einen imaginären Gang ausgedacht. Wir schließen die Augen und stellen uns vor, wie wir den für heute geplanten Weg abschreiten. Es ist eine von fünf Routen, die Darash schon in Tel Aviv gegangen ist – als Linie adaptiert und auf die Berliner Landkarte übertragen. Der Revolutionsgeist und die Aufbruchsstimmung, die in jenem Sommer 2011 in Israel in der warmen Luft lagen, waren nach den Protesten schnell wieder abgeebbt. Darash reagierte mit Performances, die er „Requiem“ nannte. In fünf stillen Gängen, die wie schon die während der Proteste in ein langsames kollektives Fallen mündeten, trug er den Revolutionsgeist zu Grabe.

In Berlin wiederholen wir heute eine dieser Prozessionen. Doch erst gehen wir den Weg in Gedanken ab: Mit einer Art Cadavre Exquis konstruieren wir gemeinsam, Satz für Satz, eine surrealistische Szenerie. Bilder wie über uns drüber fliegende Fahrradfahrer und wehende rote Flaggen mit Smileys kommen dabei heraus, das soll uns später helfen, unser Innerstes nach außen in den urbanen Raum zu projizieren. Katja und ich machen tapfer mit.

Mich interessiert vielmehr, wie die von Demonstrationen inspirierte Ästhetik – virulentes Thema in der zeitgenössischen Kunst – völlig aus ihrem Kontext gelöst etwas Neues kreieren kann. Und wie die Städter da draußen wohl darauf reagieren. Immerhin verinnerlichen wir bei unserem imaginären Gang aber schon mal die Regeln: Wir laufen langsam, bleiben eng zusammen, schauen nach vorne, lassen die Arme hängen, reden nicht, reagieren nicht, wenn uns jemand anspricht. Endlich geht’s los.

Ein Reisebus bringt uns zu einer Spree-Brücke auf der Museumsinsel. Blauer Himmel, weiße Wattewölkchen, friedliches Plätschern. Wir formieren uns als Gruppe, Schulter an Schulter, richten den Blick nach vorne. „Okay guys, let’s walk“, sagt Darash, unsere Prozession beginnt. Kaum haben wir uns in Bewegung gesetzt, ziehen wir schon die ersten neugierigen Blicke einer Gruppe Jugendlicher auf uns. Ich bin aufgeregt, hole tief Luft und konzentriere mich auf meine Füße.

Langsam laufen ist einfach, dachte ich. Doch jetzt merke ich, wie viel Körperbeherrschung ich brauche, um bei dem Schneckentempo die Balance zu halten. Wir schleppen uns in Zeitlupe das Spreeufer entlang, die Gruppe ist jetzt eins, ein Fremdkörper in der Stadt. Zwei Frauen, die gemütlich auf einer Bank saßen, sehen uns, springen auf und eilen hastig davon. Haben wir denen jetzt Angst eingejagt? Wir haben ja weder Transparente, noch skandieren wir irgendwelche Parolen. Und trotzdem muss man uns für Demonstranten mit irgendeiner Absicht halten. Das irritiert wohl.

Nach etwa zehn Minuten fühlen sich herunterhängenden Arme langsam etwas steif an. Die strahlende Mittagssonne blendet mich, und anstatt mir fliegende Fahrradfahrer vorzustellen, ärgere ich mich darüber, dass ich meine Sonnenbrille vergessen habe. Es ist heiß. In Zeitlupe gehen wir auf das gar nicht weit entfernte nächste Stück Schatten zu. Ich habe Durst, irgendwie hat das etwas von Jesus’ Gang zum Kreuz durch die Via Dolorosa, nur reicht einem hier niemand Wasser. Von der anderen Straßenseite brüllt ein Junge „hässlich“ und „scheiße“ zu uns rüber, ich schaue nicht hin, der Kopf soll ja nach vorne gerichtet sein. Eigentlich ist mir das auch egal, denn so langsam fühle ich mich extrem entschleunigt und wohl in der Sicherheit der Gruppe.

Wir gehen unter einer Brücke durch, meine Beine schreiten den Weg jetzt Zentimeter für Zentimeter mechanisch ab. Der Lärm der über uns fahrenden Autos und Busse vermengt sich über unseren Köpfen zu einem gleichförmigen Rauschen, meine Müdigkeit, der Rhythmus des Gangs und der Lärm gehen ineinander über, plötzlich habe ich das Gefühl, wie berauscht in einer schalldichten Blase durch die Stadt zu driften.

Aus meinem meditativen Zustand werde ich schnell wieder herausgerissen: Wir überqueren eine stark befahrene Straße, ebenso langsam wie wir seit geschätzten zehn langen Minuten die Spree entlang prozessieren. Wir, der schleichende Gruppen-Fremdkörper, der sich dem Stress der eilenden Städter widersetzt, halten den Verkehr auf. Taxis hupen wie wild, Passanten schauen uns kopfschüttelnd an. Wir setzen unsere Prozession unbeirrt fort. Angst vor den aufheulenden Motoren habe ich nicht, es fühlt sich irgendwie mächtig an, hier aufzuwühlen. Und das bloß, weil man mit der Norm bricht – mit der normalen Schrittgeschwindigkeit.

Das Außen ist so spannend, das ich gar keine surrealistischen Projektionen aus dem Innen brauche, um für mich eine großartige Erfahrung aus dieser Performance zu machen. Die Stadt wirkt wie ein Filmstill, so lange bewegen wir uns mit dem Blick nach vorne durch den gleichen, von Häusern gesäumten Rahmen. Dinge, die ich an diesem Morgen nie wahrgenommen hätte, werden jetzt zu mal poetisch grotesken Momenten: Eine tote Taube am Straßenrand, ein Stück Klopapier, das aus einem Fenster geworfen wird und langsam durch die Luft trudelt, Überwachungskameras.

Sicherheitsleute schauen ratlos zu, wie wir uns geschlossen am Auswärtigen Amt vorbeischieben. Ist das jetzt eine Demo? Noch eine Straße, wütendes Hupen, neugierige Blicke und dann Finale: Wir kommen auf einer Wiese am Schinkelplatz an, im Hintergrund hämmernder Lärm von der Stadtschloss-Baustelle. Wir verteilen uns auf dem einladenden Grasteppich – und lassen uns fallen.

Arme, Kopf und Knie sinken Millimeter für Millimeter, minutenlang. Nach einer geschätzten halben Stunde Zeitlupen-Gang ist es ungemein erleichternd, sich der Schwerkraft hinzugeben. Endlich plumpsen wir nacheinander auf den Boden. Ich sehe die Stadt immer noch wie in einem Film, jetzt aus der Perspektive einer hingeworfenen Kamera. Durch die Grashalme beobachte ich ein paar Bauarbeiter, die Fotos von der skurrilen Szene machen. Wir durften leider keine machen, doch die Erfahrung ist nachhaltig, auch ohne Dokumentation.

Wir stehen nacheinander auf, gehen – jetzt im normalen Tempo – in verschiedene Richtungen weg und vermengen uns mit den Menschenströmen in den umliegenden Straßen. Ich nehme den Stadtraum ganz anders wahr, die schnellen Passanten, die ungeduldigen Autofahrer, die poetisch grotesken Momente. Wahrscheinlich werde ich morgen wieder ganz darin aufgehen und kreuz und quer mit einem Kaffeebecher in der Hand durch die Stadt rasen.