Textarchiv

Revoluzzerin des Tanzes 04/2012, Zeit Online

Die US-Tänzerin Yvonne Rainer nahm dem Tanz den Glamour und gab ihm eine sozialkritische Dimension. Als ihr das nicht mehr reichte, revolutionierte sie noch den Film.

Dunkle Strähnen hängen um Yvonne Rainers Gesicht, sie schwingt die Arme locker umher, schreitet den Raum ab, rollt über den Boden. Ihr Blick ist mal starr nach unten, mal abwesend in die Ferne gerichtet. Mit der Performance Trio A , die eher wie eine Studie zum menschlichen Bewegungsrepertoire als ein Tanzstück anmutet, bringt sie 1966 eine Revolution ins Rollen. Rund 50 Jahre zuvor hatte Marcel Duchamp Alltagsgegenstände wie das berühmte Urinal zu Kunst erklärt und die Welt der bildenden Kunst auf den Kopf gestellt. Nach Rainer konnte auch Tanz nicht mehr sein, was er vorher war.

Hinter ihren bewusst unspektakulären Choreografien steckt intellektuelles Kalkül. Mit ihrem legendären No-Manifest befreite sie Tänzer von Glamour, mit Kampfansagen wie „Nein zu Virtuosität“ oder „Nein zur Verführung des Publikums“ entmystifizierte sie den Tanz wie die Minimal Artists die Leinwände. Reduktion, Abstraktion, Wiederholung und Monotonie machte sie zu Prinzipien des postmodernen Tanzes.

1957 kommt die in San Francisco geborene Rainer nach New York , um bei den Koryphäen der modernen Szene Merce Cunningham und Martha Graham zu studieren. Mit Ausdruckstanz hatten sie sich von klassischen Idealen gelöst, mit ihrem minimalistischen Programm verabschiedet sich Rainer von den Ideen ihrer Lehrer. Ihre Vision verwirklicht sie im Judson Dance Theatre zusammen mit Größen der bildenden Kunst wie Carl Andre oder Robert Rauschenberg . Die Avantgarde-Kompanie formiert sich in den frühen 1960er Jahren, der Ära von Fluxus und Happening, und entwickelt sich mit einer heterogenen Gruppe von Tänzern, Künstlern, Musikern, Filmemachern und Dichtern zur Keimzelle des postmodernen Tanzes.

Rainer und ihre Kollegen machen Tanz zum Teil eines größeren ideologischen Projekts und streifen das ihn umgebende elitistische Flair ab. Sie wollen Bewegung demokratisieren und den Tänzer als Subjekt zugunsten der Tanzhandlung in den Hintergrund drängen. Einige Performances sind explizit politisch: 1970 organisiert Rainer den vom Gang der Arbeiter in Fritz Langs Metropolis inspirierten M-Walk , bei dem 40 Personen mit pendelndem synchronen Gang und hängenden Köpfen gegen die Invasion der Amerikaner in Kambodscha demonstrieren.

Körper und Performance bleiben eins, auch durch Vermeiden von Blickkontakt schafft Rainer es nicht, die Nähe zum Publikum aufzulösen. Schließlich schiebt sie eine Kamera zwischen Körper und Publikum. Ihr Hand Movie von 1966 folgt der gleichen analytischen Logik wie Trio A : In einer langen Großaufnahme zitiert Rainer mit der Hand alltägliche Gesten, ballt sie zur Faust, lässt einen Finger den anderen kratzen, spreizt den kleinen Finger ab.

Im Film kann Rainer ihre sozialpolitischen und feministischen Anliegen deutlicher formulieren, Abstand zum Publikum gewinnen und so paradoxerweise ihre emotionale Distanz reduzieren. „Ich fühle mich meinem Publikum jetzt viel näher und das beruhigt mich sehr“, schreibt sie 1973 in einem Brief, kurz nachdem sie ihren ersten Langspielfilm Lives of Performers abgedreht hat. Als Filmemacherin verfolgt sie einen ebenso revolutionären Ansatz wie im Tanz, legt narrative und formale Konventionen schonungslos offen, macht Themen wie Sexismus oder Rassismus neu zugänglich und taucht immer wieder in autobiografische Sphären ab.

Ein DAAD-Stipendium führt Rainer 1977 nach West-Berlin , wo sie sich im Deutschen Herbst wiederfindet – konfrontiert mit RAF-Terror und Polizeigewalt. Die Eindrücke verarbeitet sie in ihrem filmischem Essay Journeys from Berlin/1971 , das sich entlang einer losen Narrative, montiert aus historischen Aufnahmen, in Berlin , London und New York gedrehtem Material sowie autobiografischen Bildern mit der für Rainers Werk essentiellen Beziehung von Privatem und Politischem auseinandersetzt.

Auch The Man Who Envied Women von 1985 kreist um diesen Dualismus. In das private Drama einer Trennung webt sie den gesellschaftspolitischen Diskurs in Form von Zitaten von Theoretikern wie Julia Kristeva oder Michel Foucault und Feministinnen wie Ruby Rich. Formal zeigt Rainer die gewohnte Experimentierfreude: Der von seiner Frau verlassene Protagonist wird von zwei Schauspielern verkörpert, und die Frau äußert sich lediglich aus dem Off.

In ihrem letzten Film MURDER and Murder aus dem Jahr 1996 tritt Rainer als Teil eines älteren lesbischen Liebespaares auf und unterbricht die Handlung immer wieder mit statistischen Informationen und persönlichen Aussagen zum Thema Brustkrebs, ein Schicksal, das sie selbst ereilte.

25 Jahre dauert es, bis Rainer wieder eine Choreografie entwickelt. Anstoß für das Comeback im Jahr 2000 ist eine Anfrage von Tanzlegende Mikhail Baryshnikov. Ihre neuen Stücke sind komplexe Geflechte aus Sprache, Musik und Tanz, rekurrieren auf die von Rainer mitgeschriebene Geschichte des Tanzes und basieren wieder auf alltäglichen Bewegungen. Die heute 77-Jährige destilliert etwa Elemente aus dem Fußball. Dafür studierte sie Pelé .