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Ort der Verheißung 09/2021, Camera Austria International

Vor einigen Jahren schenkte mir der Künstler Andreas Rost eine Schwarz-Weiß-Fotografie aus einer Serie, die Ostdeutsche in der Umbruchszeit 1990 porträtiert. Das Motiv, ein kleiner Junge hinter einem Schaufenster am Alexanderplatz, suchte ich mir selbst aus. Das Kind schaut skeptisch auf etwas außerhalb des Bildrandes, neben ihm sind westliche Mode- und Sportartikel drapiert. Die Aufnahme erinnerte mich an meine eigene Wahrnehmung als ostdeutsches Kind zu dieser Zeit; daran, wie der kapitalistische Westen in den nachrevolutionären Osten brach: in Form einer Warenflut. Da war der Putz an den Häusern noch grau und dieser Westen fühlte sich sehr fremd an.

Das Bild war beim 8. f/stop Festival für Fotografie Leipzig, kuratiert von Anne König und Jan Wenzel, Teil einer Installation auf dem dortigen Wilhelm-Leuschner-Platz. Andreas Rost, Elske Rosenfeld und andere hatten auf einem großen Display einen Bild-Text-Essay montiert, der auf das Jahr 1990 zurückblickte. In diesem Jahr befand sich die DDR für kurze Zeit im postsozialistischen Versuchszustand, bevor sie an die BRD angeschlossen wurde. Die Bürgerrechtler*innen arbeiteten noch eine Verfassung für einen reformierten sozialistischen Staat aus. Doch bald zerplatzte ihr Traum und die Treuhand begann mit der Abwicklung des volkseigenen Eigentums.

Auf Rosenfelds künstlerische Forschung zu dieser Umbruchszeit war ich schon einige Jahre zuvor gestoßen. In Berlin hatte ich eine Performance von ihr mit Videomaterial von den ersten Verhandlungen am Zentralen Runden Tisch der DDR im November 1989 gesehen. Sie spulte vor und zurück, spielte ausgesuchte Momente immer wieder ab und kommentierte sie, etwa als Stimmen von einer Demonstration von draußen hereindringen und die Menschen drinnen verunsichern. So unternahm sie ein close reading des Videomaterials.

Wie nahe sich die Arbeitsweisen Rosenfelds und jene des Filmemachers Harun Farockis sind, fiel mir erst mit ihrer jüngsten Publikation auf. Auf Einladung des Harun Farocki Instituts unternimmt Rosenfeld darin eine »Aktualisierung« eines unvollendeten Films Farockis. In dokumentarischem Material suchen beide nach Wahrheit oder nach Ausschnitten dieser. Die Möglichkeiten des Cinéma vérité, des Wahrheitskinos, seien noch lange nicht erschöpft, schrieb Farocki in der Ankündigung seines Films. Farockis Art des Filmemachens, des Zugreifens auf die Wirklichkeit in dokumentarischen Bildern, und Rosenfelds Praxis des Wiederholens und performativen Eingreifens in dokumentarisches Material erweitern die Möglichkeiten dieser Suche. Und die Wahrheit scheint sich je nach Perspektive immer wieder zu verändern.

Von Farockis Film sind zwei leicht unterschiedliche Versionen erhalten. Hard Selling, so sollte der Film heißen, war schon im Programm der DFF-Länderkette angekündigt, des Nachfolgers des DDR-Fernsehens. Farocki war einem Adidas-Vertreter im Jahr 1991 nach Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern gefolgt, entlang jener Warenflut also, die aus dem Westen in den Osten brach. Farocki fuhr im Auto mit dem Vertreter zu Sportartikelläden, filmte dort Verkaufsgespräche und zurück im Auto seine eigenen Gespräche mit dem Vertreter über dessen Arbeit. Warum Farockis Film nicht fertiggestellt und zum Sendetermin nicht ausgestrahlt wurde, ist unbekannt. Knapp zwei Monate später wurde der Sender ohnehin eingestellt.

Ein ehemaliger Mitarbeiter vermutet, schreibt Rosenfeld, Farocki habe die aalglatte Sprache des Vertreters nicht ertragen. In ihrer Publikation montiert sie Transkripte der Gespräche, einige Videostills und ihren eigenen, analysierenden und kommentierenden Text, in den sie auch ihr biografisches Erleben der gefilmten Zeit mit einschreibt. Darüber hinaus ist die Programmankündigung abgedruckt. Er kenne die fünf neuen Bundesländer so wenig wie Afrika, schreibt Farocki darin. Wolle er dort einen Film drehen, müsse er Geschäftsleuten, Entwicklungshelfern oder Soldaten folgen. Der Verkäufer, dem er im Film folge, sei eine solche Figur, er sei Geschäftemacher, Entwicklungshelfer und Missionar in einem. Er sei rhetorisch, psychologisch und taktisch geschult worden, um zu einem Verkaufserfolg zu kommen. Im Fachjargon heißt dieser Erfolg »Hard Selling«.

Die Beziehungen des Vertreters zu seinen Kunden seien schon von der Notwendigkeit, Dinge zu kaufen und zu verkaufen, kolonisiert, notiert Rosenfeld. Vom Begriff der »Kolonisierung« des Ostens durch den Westen aber distanziert sie sich, denn als geborgter Begriff könne er das Leid herabsetzen, mit dem er vergleicht. Eine Sprache für jene Form von Gewalt, die mit dem Einbruch des Kapitalismus in den Osten einherging, fehle noch. Vielleicht sind gerade deshalb die Bilder so aufschlussreich, die Farocki hinterlässt.

Das Fenster, als Autofenster, Schaufenster oder als filmischer Frame, ist eine Schlüsselmetapher in diesen Bildern. Auch Rosenfelds erster Blick auf den Westen sei im Dezember 1989 durch ein Autofenster gewesen, schreibt sie. »Wir fuhren zu Verwandten nach Braunschweig. Der Westen sah so aus, wie ich ihn aus dem Westfernsehen kannte.« Durch Fenster dringen die ersten Blicke auf das jeweils Fremde: »Die Bilder des 9. November 1989, die ikonisch wurden, sind Blicke aus dem Westen in Richtung Osten, durch die Autofenster der Ostler hindurch in ihre Gesichter, die in den Westen blicken und voller Hoffnung sind,« so Rosenfeld weiter.

Mit Boris Buden denkt Rosenfeld über die Beziehung dieser Blicke nach: »Er [Buden] schreibt, dass die Westler in den Augen der Ostler nicht den Osten sahen, sondern vielmehr einen Westen erkennen wollten, der ihnen selber bereits vor Langem abhandengekommen war; einen Ort der Verheißung und des Glücks.« Im Rückblick auf die klobige Visualität der Videobilder aus Hard Selling, auf die hölzerne Verkaufssprache der 1990er-Jahre und die erstarrte Ästhetik der Sportmode wird dieses Trugbild besonders deutlich. Längst sind die Häuser im Osten nicht mehr grau, und die Waren in den Schaufenstern haben ihren Glanz verloren. So, wie es um 1990 schon in der BRD gewesen sein muss. Farocki hat mit Hard Selling mehr einen Film über die alte BRD als über die ihm unbekannten neuen Bundesländer gemacht.

Harun Farocki: Hard Selling. In einer Aktualisierung von Elske Rosenfeld (=HaFi 014).
Hrsg. von Doreen Mende.
Mit Textbeiträgen der Herausgeberin und Elske Rosenfeld (ger./eng.)
Harun Farocki Institut, Berlin 2021.
60 Seiten, 20 × 26 cm, zahlreiche Farbabbildungen.
€ 9,– / ISBN 978-2-940672-19-6