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Narren laufen Amok: Niv Sheinfelds und Oren Laors “Ship of Fools” 08/2012, Tanz im August-Blog

Als Sascha Engel, Anat Grigorio und Uri Shafir bewaffnet mit einer Akustikgitarre das Publikum auffordern, eine Schnulze mitzusingen, plätschert ein zaghaftes Stimmenmischmasch durch den Saal: „Times of joy, times of sorrow …“. Als später alle aufstehen sollen, um Teil einer schrägen Beerdigungszeremonie zu werden, bleibt ein Mann sitzen. Doch er wird nicht etwa in Ruhe gelassen. Der am Boden liegende Shafir, der den Toten spielt und dabei die Szene dirigiert, fordert den Sitzenden mehrfach auf mitzumachen, es könne hier sonst nicht weitergehen.

Die Mitmachszenen in Niv Sheinfelds und Oren Laors „Ship of Fools“ implizieren: Hier kommt keiner davon, wir sitzen alle in einem Boot. Besser gesagt: in einem Schiff, das Stück ist eine Adaption von Sebastian Brants 1494 erschienener Moralsatire „Das Narrenschiff“, die über 100 Narren – personifizierte Laster und gesellschaftliche Missstände – auf ihrer Reise ins paradiesische Narragonien begleitet.

Der Narrentanz des dreiköpfigen Ensembles stellt die Konzentrationsfähigkeit des Publikums auf die Probe, das Stück ist schon voll im Gange, als sich die Reihen noch füllen. Links verausgabt sich Sascha Engel bei einem Workout, macht Liegestütze, Kniebeugen und joggt. In der Mitte kokettiert die charismatische Anat Grigorio, lacht ins Publikum, tanzt Elemente aus klassischem Ballett, Modern Dance und Go-go, rechts führt Uri Shafir postmoderne Bewegungsstudien im Loop durch – drei Solos zu wummernden elektronischen Klängen, zeitgleich.

Zuschauen macht allmählich seekrank: Die Soundkulisse springt von Pop zu Stille zu Lagerfeuergitarre zu Kirmestamtam, Engel, Grigorio und Shafir tanzen mal alleine, mal zu dritt, mal zu zweit und die Stimmung schaukelt zwischen Heiterkeit und Aggression hin und her. Aus dem lustigen Miteinander wird allmählich ein spielerisches Gegeneinander: Engel imitiert mit seiner Hand eine Pistole und schießt Shafir in den Kopf, der fällt hin und springt wie ein Stehaufmännchen immer wieder auf die Füße. An anderer Stelle wird Engels Workout zum Boxtraining, dann richten sich seine Fäuste gegen Grigorio.

Mit voller Kraft steuert die Utopie der ewigen Narrenparty auf ihr dystopisches Fazit zu. Michael Jacksons „Beat it“ schallt aus den Boxen, die Drei gleiten in Moonwalks über die Bühne, amüsieren sich wie Teenager, machen mit einer kleinen Digitalkamera Fotos von sich. Engel tanzt jetzt mit verbundenen Augen, fällt auf die Knie, Grigorio und Shafir springen lachend auf ihn zu, verbinden ihm die Arme hinter dem Rücken und knipsen.

Das Jugendzimmer wird zur Folterkammer. Vor dem inneren Auge ziehen die Fotos vorbei, die US-Soldaten im Abu Ghraib-Gefängnis posierend mit blutverschmierten, gefesselten und geknebelten Gefangenen zeigen. Ein nackter Mann an einer Leine, Gefolterte mit erigierten Gliedern, ein mit Elektroschockkabeln verbundener Mann, der mit über den Kopf gestülptem Sack auf einer Kiste steht. Engel schreit nach Shafir, er solle ihn sofort losmachen. Stille.

Was als albernes Spektakel angefangen hat, nimmt eine bedrückend bedrohliche Qualität an. Und schließlich richtet sich die Aggression gänzlich gegen die Zuschauer – der Saal wird zum Setting eines Amoklaufs. Shafir hält seine Gitarre wie ein Gewehr ins Publikum, Engel steht hinter ihm, schubst ihn näher an die erste Reihe heran, zeigt auf eine Zuschauerin und schreit: „Shoot her! She’s making fun of you!“, greift den Gitarrenlauf und lässt ihn quer über die Köpfe zucken: „Pengpengpengpeng!“

„Ship of Fools“ ist eine komplexe Gesellschaftsanalyse, die mit so viel Leichtigkeit daherkommt, dass die politischen Momente wie ein Schuss in die Stirnmitte sitzen. Sheinfeld und Laor haben eine Allegorie auf den Status Quo der Menschheit choreografiert. Und der scheint sich seit 1494 kaum verändert zu haben: Die Welt ist voller Narren. In Narragonien kamen sie schon im Original nicht an.