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Mit der Limousine durch den Berliner Westen: Die “X-Choreografen” am Ku’damm 08/2012, Tanz im August-Blog

Eine Handvoll junger Leute wartet an der Bushaltestelle Breitscheidplatz im Stadtteil Charlottenburg auf eine Limousine. Es sind Kollegen der Choreografin und Tänzerin Ligia Lewis, heute ist die Generalprobe ihrer Performance für das Projekt X-Choreografen.

Von Mittwoch bis Freitag werden hier 17 Nachwuchs-Künstler für die Gegend um den Kurfürstendamm herum entwickelte Arbeiten präsentieren und das Publikum mit auf zwei Touren mit je sieben Stationen nehmen. Sie sollen die Westberliner City aus ihrem Dornröschenschlaf wecken, von einem „traurigem Schattendasein“ ist im Ankündigungstext die Rede.

Den Schatten wirft die glorreiche Geschichte des Berliner Westens. Vor 100 Jahren tummelte sich hier die Avantgarde, in Bars und Cafés wurde das antibürgerliche Programm des Expressionismus geboren, ein paar Meter von der Bushaltestelle entfernt lag das legendäre Romanische Café, in dem Künstler wie Bertolt Brecht, Otto Dix und Else Lasker-Schüler an ihren Visionen feilten. In den 1920er Jahren pilgerten Menschen aus ganz Europa hierher, um legendäre Shows zu sehen.

Die US-amerikanische Tänzerin Josephine Baker trat 1926 erstmals in Deutschland auf, im Nelson-Theater am Kurfürstendamm. Sie verkörperte die Dekadenz der Zwanziger wie niemand sonst. In Guido Knopps Doku „Der Countdown“ erzählt einer ihrer Adoptivsöhne von Bakers Lebenswelt, geprägt von Kokain, Heroin und Charleston. Ein Diplomat erinnert sich in seinem Tagebuch an ein rauschendes Fest in Berlin mit Baker, dem damaligen Intendanten des Deutschen Theaters Max Reinhardt, vielen nackten Mädchen und zwanglosem Sex.

Heute ist von diesem Aufbruchsgeist hier nichts mehr zu spüren, Visionen entstehen in anderen Teilen der Stadt – in Kreuzberg, Neukölln, Friedrichshain und Prenzlauer Berg etwa, wo trotz massiver Mieterhöhungen noch viele junge Künstler leben. Auch vom Glitzern und Funkeln der Zwanziger ist kaum etwas übrig. Heute funkeln vor allem die Preisschilder der Luxusboutiquen am Kurfürstendamm und der Mercedesstern auf dem Hochhaus des Europa-Centers, Berlins Vorzeigebeitrag zum International Style.

Fast keiner der Wartenden war je hier. Nur einer kennt die Gegend ein bisschen, ein Amerikaner, der an der Universität der Künste studiert hat. Er liebe die ganze Gegend um den Bahnhof Zoo, sagt er begeistert: „Die Atmosphäre hier ist viel kosmopolitischer als in den beliebten Kiezen, dort ist es regelrecht provinziell. Man geht immer in die gleichen Bars, kennt jeden. Und die Architektur hier fasziniert mich.“

Damit scheint er ziemlich alleine dazustehen. Der Rest der Gruppe schaut widerwillig von Hotel Palace über KFC zum „Lippenstift“. Der 1961 fertig gestellte Neubau der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zählt im Ensemble mit der nie abgerissenen Ruine nach wie vor zu Berlins beliebtesten Touristenattraktionen. Ein paar Franzosen mit KaDeWe-Tüten zeigen auf den sechseckigen Turm, machen Fotos. Drumherum überall Abrissbirnen, Kräne, Gerüste. Hier ist etwas in Bewegung, aber wohin?

Endlich rollt eine schwarze Stretch-Limousine mit verdunkelten Scheiben heran, mehr als 30 Minuten zu spät. Drei der Publikumsstatisten steigen ein. Am Mittwoch muss das besser klappen, denn dann wird das Publikum in Gruppen von Station zu Station gebracht. Wie die City West hat der Wagen der Marke Lincoln die besten Zeiten hinter sich, das schwarze Leder der Sitze ist verblasst und rissig. Ligia Lewis sitzt in lasziver Pose auf der Rückbank, schaut nach unten. Sie trägt einen Nylon-Catsuit mit einigen Löchern. Der Fahrer wirft den Motor an, laute elektronische Musik schallt aus den Boxen, es geht los.

Langsam hebt Lewis ihren Kopf, lässt den Blick von Augenpaar zu Augenpaar wandern, funkelt jeden bestimmt, fast aggressiv an. Draußen ziehen Kastenbauten, ein paar schicke Gründerzeithäuser und mit Plastiktüten beladene Menschen vorbei. Eine Frauenstimme spricht aus der Soundcollage, Lewis bewegt ihre Lippen synchron dazu. Es fällt schwer, sich zwischen dem Klingeln der Sektflaschen und Gläser in der Bar, den wummernden Klängen und Lewis’ bohrenden Blicken auf den Text zu konzentrieren. Es muss wohl um Dekadenz und Finanzkrise gehen, im Gedächtnis bleiben die ständig wiederholten Fragmente: „Why do you think they call it crash?“ und „You cannot crash when you never left the ground.“ Mit einem Crash, dem Zusammenbruch der Börse an der New Yorker Wallstreet im Jahr 1929, hatten auch Berlins goldene Zwanziger geendet.

Lewis dreht sich zärtlich zu einem großen Lederbeutel neben ihr, zieht langsam einen Reißverschluss auf. Grüne Papierfetzen in Geldscheinformat quillen heraus, echtes Geld ginge nicht, sagt Lewis, sie hätten versucht, welches in Zimbabwe zu kaufen, das sei aber trotz Turboinflation immer noch zu teuer gewesen. Die Musik wechselt zu einem schnellen Moneymaker-Bootyshaker-Hip-Hop-Track, Lewis schleudert die Schnipsel wild durch die Limousine und reibt sie über ihren Körper, go-go-tanzt auf der Rückbank, kommt den etwas betreten auf ihren Sitzen umherrutschenden Probanden unbehaglich nah. Nach zehn Minuten ist die Performance vorbei.

Einige von Lewis’ Kollegen nehmen den Bus in Richtung Alexanderplatz, dem Pendant zum Breitscheidplatz auf der anderen Seite der Stadt. Der Rest fährt nach Kreuzberg und Friedrichshain. Ob sich hier je eine junge Szene entwickeln wird? Die Tanzexpertin und Kulturjournalistin Claudia Henne glaubt nicht daran, am Kurfürstendamm lebt sie seit 22 Jahren. Von einem traurigen Schattendasein könne aber auch nicht die Rede sein: “Hier leben jede Menge Schauspieler, Autoren und Künstler”, sagt sie. “Aber eben eher welche, die Geld verdienen.”

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