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It’s all about Cooperation 02/2011, dienacht

Seit 2004 fördert der World Cinema Fund (WCF), ein Gemeinschaftsprojekt der Internationalen Filmfestspiele Berlin, der Kulturstiftung des Bundes und des Goethe Instituts, Projekte aus filminfrastrukturell schwachen Regionen in Lateinamerika, Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten, Zentral- und Südostasien und dem Kaukasus – Filme, die ohne finanzielle Unterstützung aus Europa wahrscheinlich nie das Licht der Leinwand erblicken würden.

Gerade läuft »Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives« in deutschen Programmkinos. Der außergewöhnliche Film des thailändischen Regisseurs und Videokünstlers Apichatpong Weerasethakul hat in Cannes die Goldene Palme abgeräumt. Ich habe den Film gesehen und Projektmanager Vincenzo Bugno fragt neugierig, wie ich ihn fand. Noch bevor wir die Teebeutel aus unseren Tassen ziehen, sind wir schon mitten im Gespräch.

SW: Ich mochte den Film sehr. Er hatte viele überraschende Momente und war sehr atmosphärisch. Da spielt sich viel auf rein emotionaler Ebene ab.

VB: Ja. Ich finde den Film insgesamt auch sehr poetisch, extrem emotional und menschlich. Ich habe das Drehbuch gelesen und wusste: Dieser Film wird außergewöhnlich! Es ist eine wunderschöne Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Sterben, aber gleichzeitig ist der Film auch sehr witzig und ironisch.

SW: Aus dem europäischen Kino kennt man das kaum.

VB: Nein, diese Leichtigkeit kennt man nicht, wenn es um das Sterben geht. Der Film heißt ja aber auch nicht zufällig »Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives«. Er ist schon eindeutig buddhistisch geprägt. Ich freue mich wahnsinnig, dass wir den Film unterstützt haben.

SW: Viele Szenen sind schwer zu verstehen, weil sie sich zum Beispiel auf archaische thailändischen Mythen beziehen.

VB: Ich glaube, man sollte sich von hundertprozentig erzählerischen Strukturen befreien. Man muss einen Film nicht unbedingt voll und ganz rationalisieren, sondern sollte sich überraschen lassen. Besonders, wenn es um Filme geht, die aus diesen Regionen kommen und die, zum Glück vielleicht, auch eine andere Betrachtung der Dinge zeigen. Diese Art von Filmen zu entdecken und zu unterstützen, ist eine der Hauptaufgaben des WCF. Wir sind insgesamt schon sehr ehrgeizig, was die Qualität der Filme anbelangt. Und dieser Ehrgeiz hat sowohl mit den Inhalten als auch mit den formalen Aspekten der Filme zu tun. Die ästhetische Haltung spielt eine wichtige Rolle bei der Auswahl der geförderten Filme.

SW: Müssen die Filme eine ganz besondere Ästhetik mitbringen, die man so vielleicht noch nie gesehen hat?

VB: Das ist natürlich sehr schwierig. Aber ja, wir versuchen inhaltlich und auch formal innovative Filme voranzubringen. Der Film von Apichatpong Weerasethakul ist ja auch rundum innovativ.

SW: Wie laufen denn die Entscheidungsprozesse ab?

VB: Wir sind eine kleine Arbeitsgruppe. Es gibt zwei Projektmanager beim WCF, meine Kollegin Sonja Heinen und ich. Wir ergänzen uns sehr gut, weil wir sehr unterschiedliche Hintergründe haben. Sonja kommt aus der Produktion, ich aus der Filmkritik und der Filmwissenschaft. Das ist eine gute Kombination. Bei der Analyse der Projekte unterstützen uns weitere Berlinale-Kollegen. Durchschnittlich bewerben sich 100 Projekte pro Headline, also zweimal pro Jahr. Sonja und ich treffen eine Auswahl, eine Liste mit 15 Projekten präsentieren wir dann unseren drei internationalen Jury-Kollegen, die mit uns die Finalisten besprechen. Was die Kriterien betrifft: Wir sagen nie so etwas wie »Jetzt möchten wir zwei afghanische Projekte unterstützen und nächstes Jahr zwei aus Swasiland.«

SW: Es kommt also auf die Themen an?

VB: Die Qualität der Projekte ist entscheidend, die Themen sind natürlich auch wichtig. Zwei Slogans beschreiben unsere Philosophie. Erstens: »The more local, the more international«. Wir sind absolut überzeugt, dass Filme mit starken lokalen Inhalten auch international erfolgreich sein können. Gerade solche Mikrokosmen können globale Realitäten gut darstellen. Zweitens: »It’s all about cooperation«. Weil wir auch versuchen, auf verschiedenen Ebenen Leute zusammenzubringen.

SW: Die Voraussetzung für die Förderung ist ja, dass deutsche Produzenten und nicht europäische Regisseure zusammenarbeiten …

VB: Wir wollten einfach Filme unterstützen, die sonst nur schwer produziert werden können. Die Tatsache, dass wir mit deutschen Produzenten arbeiten, ist sehr wichtig, weil diese Produzenten die Filme auch mit anderen Finanzierungsmöglichkeiten weiter unterstützen. Dabei können die deutschen Produzenten Partner oder auch richtige Co-Produzenten sein. Wir haben keine absoluten Regeln oder Dogmen. Das Wichtigste ist, dass die Förderung in den jeweiligen WCF-Förderregionen ausgegeben wird.

SW: Sind die europäischen Produzenten auch inhaltlich involviert oder entstehen die Filme tatsächlich rein aus der kulturellen Perspektive der jeweiligen Region heraus?

VB: Die kulturelle Identität der Region nehmen wir von vornherein extrem ernst. Wir wollen die Projekte auf keinen Fall inhaltlich beeinflussen. Auch die Produzenten nicht. Es gibt eine wachsende Gruppe junger deutscher Produzenten, die sich wahnsinnig für diese Art von Kino engagieren und leidenschaftlich bei der Sache sind. Und Leidenschaft bedeutet, dass sie die Inhalte sehr ernst nehmen und keineswegs eine eurozentrische, postkolonialistische Haltung haben. Sonst würden sie sich nicht mit dieser Art von Filmen auseinandersetzen.

SW: Könnten die Filme auch nach näherer filmwissenschaftlicher Auseinandersetzung noch als wirklich unabhängig von westlichen Seh- und Sichtweisen gelten?

VB: Inhaltlich sind die Filme sowieso extrem unabhängig, da wir den Inhalt ohnehin nicht beeinflussen wollen. Ich glaube, wenn man sich auf einer wissenschaftlich theoretischen Ebene sehr ernst damit auseinandersetzen würde, könnte man schon feststellen, dass die Filme einer ganz eigenen Identität entsprechen. Obwohl das Ganze natürlich sehr kompliziert ist. Wir sind nicht die ersten, die diese Art von Arbeit entwickelt haben. Seit einigen Jahren unterstützt zum Beispiel der französische »Fonds Sud Cinéma« auch diese Art von Filmen. Es gab da schon auch Kritik bezüglich einer Art Selbstzensur der Autoren oder Regisseure, weil sie dachten »Gut, wir werden jetzt von diesen Institutionen finanziert, es geht vielleicht hauptsächlich um ein europäisches Publikum, deswegen müssen wir unseren Blickwinkel anpassen«. Aber davon nehmen wir absolut Abstand.

SW: Diese von Euch unterstützten neueren Filmprojekte emanzipieren sich jetzt also von Europa?

VB: Auch da muss man natürlich nach den Regionen unterscheiden, aber die Filme emanzipieren sich eindeutig. Zum Beispiel in Afrika. Afrikanische Filme aus den 1960er und 1970er Jahren von alten Meistern hatten oft eine sehr pädagogische Haltung. Heute geht es häufiger um urbane Geschichten. Die ganze Struktur entwickelt sich. Auch was Asien anbelangt, sehen wir, dass Authentizität zunehmend eine Rolle spielt. Die inhaltliche Frage hängt sehr oft auch mit einer tiefen Entwicklung der ästhetischen Frage zusammen. Wie bei Raya Martin, ein Regisseur aus den Philippinen. Mit 26 hat er schon vier Filme gemacht und diese sind jedes Mal eine unglaubliche Überraschung. 2009 haben wir Independencia gefördert. Der Film war auch in Cannes und ist ästhetisch gesehen unglaublich ehrgeizig.

SW: Konnte sich in den Herkunftsländern der Filme überhaupt eine eigene Filmkultur entwickelt?

VB: Man kann oft von sehr ursprünglichen Filmkulturen sprechen, besonders in Asien. Natürlich haben zum Beispiel viele afrikanische Regisseure der vergangenen Generationen in Europa studiert. Aber zumindest inhaltlich haben sie sich doch auch immer wieder emanzipiert. Strukturell nicht, weil die meisten Filme immer aus Europa finanziert worden sind.

SW: Eingeschränkte Produktionsmöglichkeiten vor Ort und andere Schwierigkeiten, etwa politische, verlangen den jungen Filmemachern doch bestimmt eine enorme Kreativität ab?

VB: Krisen führen oft zu Kreativität. Man muss sich mit ihnen auseinandersetzen. Argentinien zum Beispiel hat eine der wichtigsten Filmkulturen der vergangenen 20 Jahre. In den ersten zehn Jahren dieses Jahrhunderts, also nach der Wirtschaftskrise, hat sich wirklich einiges verändert. Es haben sich immer wieder neue Realitäten entwickelt, die bei vielen jungen Regisseuren zu einem Bedürfnis nach inhaltlicher Klarheit geführt haben, das sich in ihren Filmen widerspiegelt. Wenn es aber keine strukturellen Ressourcen gibt, kommt man auch nicht weiter, deswegen ist die Rolle der internationalen Funds sehr gefragt.

SW: Welche anderen internationalen Funds sind denn noch relevant, um diese Filme zu ermöglichen?

VB: Also sicherlich der »Fonds Sud Cinéma« in Frankreich, wobei dieser Fund ursprünglich eindeutig einer nationalen Regierungsaufgabe entsprach. Dann der holländische »Hubert Bals Fund«, eine Abteilung des Internationalen Film Festivals in Rotterdam. In Schweden gibt es den »Göteborg International Film Festival Fund« und dann sind da noch verschiedene kleinere Initiativen. Wir arbeiten nicht direkt zusammen, sind aber komplementär. Die Holländer unterstützen zum Beispiel Projektentwicklung und Postproduktion und wir fördern die Produktion. So ergeben sich indirekt gemeinsame Projekte. Ohne diese Funds würden viele tolle Filme aus ärmeren Regionen der Welt nie realisiert werden. Wir arbeiten mit 400.000 Euro im Jahr. Das ist im Grunde nicht viel, denn Filme sind teuer. Aber damit bewegen wir trotzdem viel. Jährlich unterstützen wir um die acht Filme und waren in den vergangenen fünf Jahren schon sehr erfolgreich.

SW: Viele vom WCF geförderte Filme sind sehr politisch. »Ajami« zum Beispiel behandelt den Nahost-Konflikt. Bevorzugt Ihr solche Filme?

VB: Wir würden einen Film nicht nur wegen der politischen Dimension unterstützen, wenn ansonsten die formale Qualität nicht stimmt. Aber ja, gerade auch bei Dokumentarfilmen spielt natürlich die politische Ebene oder die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Themen der Gegenwart eine Rolle. Fiktionale Filme vermitteln politische Realitäten ja auf ganz besondere Weise.

SW: Das ist wie eine Art Gegendiskurs zum medialen Diskurs, aus dem wir sonst unsere eher emotionslosen Informationen bekommen. Ein Film wie »Ajami« bietet da eine ganz andere Sichtweise auf einen vermeintlich bekannten Konflikt.

VB: Absolut.

SW: Ist die Verknüpfung politischer Realitäten mit persönlichen Lebensgeschichten der filmische Idealfall, um solche Themen zugänglich zu machen?

VB: Früher hat man gesagt, dass gerade persönliche Erfahrungen sehr politische sind. Klar ist, private Schicksale sind in den von uns geförderten Projekten auch sehr wichtig. Wie gehen die Charaktere mit politischen Situationen um? Wie wird die Geschichte erzählt? Die Geschichte eines Einzelnen erzählt immer auch die Geschichte einer Gesellschaft, direkt oder indirekt.