Textarchiv

Die Ruhe nach dem Desaster 06/2015, Photonews

Zum 90. Geburtstag von Arnold Odermatt

Zwei verunglückte Autos, ineinander gekeilt, als würden sie sich innig küssen. Ein VW-Käfer treibt mit offener Türe im See, vor Bergen und einer Trauerweide. Arnold Odermatts menschenleere, schwarzweiße Unfall-Dokumente, die als „Karambolagen“ in die Fotografiegeschichte eingingen, verstören nicht etwa mit dem Anblick von Leichen wie die Bilder des US-amerikanischen Reportagefotografen Weegee oder die Autounfälle aus Andy Warhols Serie „Death and Disaster“, für die der Künstler Pressebilder reproduzierte. Odermatts Bilder lullen den Blick mit ihrer Poesie ein. Der Käfer wird zur Ophelia, der tragischen Heldin aus Shakespeares „Hamlet“, die tot im Wasser treibt, ein in der Kunstgeschichte immer wieder aufgegriffenes Motiv. Auf das Desaster folgt ein Moment der Ruhe. Das idyllische Schweizer Alpenpanorama und die verbeulten Volkswagen, Mercedes-Benz oder Citroëns verschmelzen zu akkuraten Kompositionen. Man könnte sich durchaus vorstellen, eine Odermattsche Szenerie als Postkarte zu versenden.

Nun ist Odermatt weder ein Weegee noch ein Warhol. Er arbeitete nicht etwa als Künstler, noch nicht einmal als Fotograf, sondern als Polizist im beschaulichen Schweizer Kanton Nidwalden und kam so zu seinen Motiven. Zwischen seinem Amtsantritt 1948 und seiner Pensionierung 1990 entstand ein riesiges Konvolut an Fotografien, die er an Unfallberichte anhängte. Und ein weiteres mit Bildern, die er für sich schoss, wenn die Verunglückten geborgen waren und die Stille einkehrte. Diese Bilder sollten ihn berühmt machen. Doch zunächst verschwanden die Negative jahrzehntelang in Odermatts Haus, bis sein Sohn, der Filmemacher Urs Odermatt, das versteckte Archiv und das Talent seines Vaters entdeckte. Urs gab 1993 das erste Buch mit Fotografien Arnolds heraus, es hieß „Meine Welt“. Bald darauf horchte die Kunstwelt auf.

Ein größeres Publikum sah die Bilder erstmals 1998, als die Schirn Kunsthalle eine Ausstellung im Frankfurter Polizeipräsidium organisierte. Zum wichtigsten Wegbegleiter Odermatts wurde die Berliner Galerie Springer. Eine Einzelschau dort im Jahr 2000 markierte den Anfang von Odermatts zweiter Karriere. Da war er 75 Jahre alt. Die Galeristen nahmen seine Bilder mit auf große Kunstmessen in Köln und New York, der Kurator Harald Szeemann zeigte die Karambolagen 2001 bei der Biennale in Venedig, die New York Times feierte Odermatt als Entdeckung, der Steidl-Verlag publizierte den Bildband „Karambolage“. Im Chicago Art Institute hing Odermatt bald in einer Ausstellung mit Picasso. Bis heute ist das Interesse an seinen Arbeiten groß. Vor kurzem war er in der Ausstellung „Damage Control“ im Museum Hirshhorn in Washington D.C. vertreten, neben Künstlern wie Ai Weiwei und Thomas Demand. Odermatt sei für Autowracks was Weegee für menschliche Wracks sei, schrieb die Zeitung Washington Post, nur sei Odermatt der bessere Fotograf, denn seine Bilder seien paradoxerweise menschlicher als die Weegees.

Gerade zeigt die Galerie Springer in Berlin bislang unveröffentlichte Bilder der Karambolagen und andere Arbeiten Odermatts, darunter etwa die „Rücklichter“, Farbfotografien von Autorücklichtern, die nach einem Dorfbrand geschmolzen waren und wie zerlaufende Eiscreme anmuten. Sie entstanden Anfang der 1980er-Jahre, einer Zeit, in der sich die Farbfotografie erst schleppend in der Kunst etablierte. Nachdem er das geschmolzene Plastik gesehen habe, habe er kaum schlafen können, sagt Odermatt, so aufgeregt sei er gewesen. Am nächsten Tag sei er zurückgekommen, um die Rücklichter zu fotografieren, und sei sich sicher gewesen: „Das ist Kunst“. Die Story vom Amateur, der zufällig großartige Kunst produziert und erst spät entdeckt wird, macht sich gut, sie wird gerne erzählt. Zwar war Odermatt Autodidakt, nur kurze Zeit aber Amateur. Er erreichte schnell technische Perfektion. Großartige Kunst produzierte er nicht zufällig, Künstler war er einfach und blieb es bis heute.

Zu seinem 90. Geburtstag ist Odermatt nach Berlin gekommen. In der Galerie Springer spricht er über sein Leben und sein Werk. Er trägt eine leichte Brille, einen grauen Nadelstreifenanzug und ein Hemd mit aufgeknöpftem Kragen. In gemächlichem Schweizerdeutsch erzählt er aus seinem Leben, mit dem Sanftmut und dem Witz, der auch in seinen Bildern steckt. Als er zehn Jahre alt war, gewann er eine Kamera. Seinen ersten Film verdiente er sich mit einer Zauberschau für die Nachbarn. Vom Bedienen der Kamera bis hin zum Entwickeln der Filme brachte er sich alles selbst bei. Später kaufte er sich eine Rolleiflex, feilte weiter an seiner Technik und seinen Kompositionen. Dass das Filmmaterial teuer war, machte ihn zum Perfektionisten. Der eine Schuss musste es sein. Er schulte sich in Retusche, machte die Abzüge selbst. Immer habe er auf Reaktionen gehofft, sagt er, doch sie seien ausgeblieben. Die Fotografie hatte es ohnehin schwer, sich als Kunstform zu etablieren. Niemand nahm Odermatts Wirken in diesem abgelegenen Schweizer Kanton wahr.

Es waren Reportagefotografen, die zuerst Anerkennung erfuhren, entscheidend war der Beginn der Ära Magnum Photos. Ein Mitglied der Fotografenagentur bewunderte Odermatt ganz besonders: den Schweizer Werner Bischof. Als Polizist bewachte Odermatt hin und wieder hohen Besuch. So lernte er eines Tages auch Bischof kennen, als dieser wegen eines Besuchs Charlie Chaplins anreiste. Bischof sei überrascht gewesen, dass in dieser Gegend überhaupt jemand sein Werk kannte, sagt Odermatt. Der Starfotograf gab seinem Bewunderer einen banalen Tipp, der sich als entscheidend für dessen späte Karriere erweisen sollte. Odermatt ging nachlässig mit seinen Negativen um, Bischof riet ihm, sie sorgsam zu archivieren. Von da an verpackte er jedes einzeln und bewahrte es sorgsam auf.

Neben den Karambolagen fotografierte Odermatt Kollegen, Familie, sich selbst. Sein Sohn stellte die Bilder in den Werkgruppen „In Zivil/Off Duty“ und „Im Dienst/On Duty“ zusammen, im Steidl-Verlag erschienen zwei Bücher mit diesen wenn auch motivisch weniger pointierten, dennoch aber herausragenden Arbeiten. Er nahm sich dafür mehr Freiheit und setzte schon in den 1960er-Jahren Farbe meisterhaft ein. Erst 1976 sorgte William Eggleston mit einer Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art für einen Skandal, weil er die kanonisierte Unantastbarkeit der Schwarzweiß-Fotografie mit satten Farben bekleckste.

Gemeinsam ist den Bildern die unverwechselbare Odermattsche Theatralik, in der akkurate Kompositionen auf poetische Momente und Witz treffen. Odermatts uniformierte Kollegen wirken wie Statisten aus einem Hitchcock-Film, wenn Sie im motorisierten Boot über einen Schweizer Bergsee jetten. Wie Requisiten hüllen dicke Schneeflocken zwei zusammengestoßene Autos vor schwarzem Nachhimmel ein. Und der ikonisch gewordene, im See treibende VW-Käfer hätte auf keiner Bühne besser inszeniert werden können.