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Idee: Sven Gatter und Verein Perspektive hoch 3 e.V. / realisiert in Kooperation mit dem Freundeskreis Willy-Brandt-Haus, Berlin, und der Stadtgalerie Kiel, gefördert durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Projektleitung: Nadja Smith, Kuratorin: Sabine Weier, Projektmanagement: Elisabeth Friedrich.
Zwar sei der Postkommunismus aus dem Untergang des Kommunismus und damit aus einem politischen Ereignis hervorgegangen, sagt Kulturkritiker Boris Buden, um ein politisches Phänomen handle es sich dennoch nicht, sondern um ein kulturelles, um einen kulturell konstruierten Ort. (1) Diesen Ort gestalten Künstlerinnen und Künstler der Umbruchsgeneration wesentlich mit. Sie wurden um 1980 herum in der DDR geboren, erlebten als Kinder die letzten Jahre des Kalten Krieges, dann die politische Wende und schließlich den andauernden Transformationsprozess im postkommunistischen Europa. Ihre Jugend war vom Systemwandel und vom Verlust von Gewissheiten geprägt, von Aufbruch und Neuverortung, mitunter von politisierten, konfliktreichen familiären Beziehungen.
Die Ausstellung zeigt fotografische Positionen sowie Videoarbeiten von neun Künstler*innen dieser Generation, um die sich in den vergangenen Jahren unter Begriffen wie „Dritte Generation Ostdeutschland“ oder „Wendekinder“ eine Diskussion entfacht hat, und gibt Einblicke in einige Themen, die sie bewegen, auch weil sie in zwei Systemen aufgewachsen sind. Dörte Grimm und Nadja Smith haben die Künstler*innen filmisch porträtiert und stellen so Bezüge zwischen ihren Biografien und Werken her. So ermöglicht die Ausstellung eine von vielen möglichen Lesarten der Arbeiten.
Mit ihrer Generation teilen die Künstler*innen einen neugierigen und kritischen Blick auf das, was vor 1989 war, aber auch auf das, was heute ist. 2014 beschäftigte sich schon das Projekt „The Forgotton Pioneer Movement“ in einer Ausstellung, Performances und öffentlichen Gesprächen mit künstlerischen Positionen dieser Generation. Zum Ausgangspunkt machten die Kuratorinnen Ulrike Gerhardt und Susanne Husse die Figur des Pioniers, ein Sinnbild der gemeinsamen generationellen Erfahrung verschiedener osteuropäischer Kulturen. (2) Sie steht aber auch für eine Nostalgie, die in der Kunst kritisch rezipiert und mit neuen Perspektiven konfrontiert wird.
Geschichte und der gesellschaftliche Umgang damit sind wichtige Sujets der aktuellen Kunst. Dieter Roelstraete spricht von einem „historiographic turn“, zu dem der Wunsch nach Aufarbeitung der sozialistischen Vergangenheit Zentral- und Osteuropas und der damit verbundenen Traumata wesentlich beigetragen habe. (3) Wegen seines dokumentarischen Charakters eignet sich das Medium Fotografie besonders für die Auseinandersetzung mit in diesem Kontext relevanten Themen, wie Erinnerung, Identität oder sozialen Realitäten.
Wenn sich Künstler*innen mit Geschichte befassen, arbeiten sie zum Beispiel mit in Archiven gefundenen Bilddokumenten, wie Luise Schröder. Sie interpretieren historische Ereignisse und Ästhetiken durch Reinszenierungen neu, wie Andreas Mühe, oder durch investigativ-dokumentarische Projekte, wie Anne Heinlein. Und sie setzen sich mit architektonischen Erinnerungsträgern auseinander, wie Margret Hoppe und Marc Marquardt. Auch die postkommunistische Gegenwart machen Künstler*innen zum Thema ihrer Werke. Mit Identität und demografischem Wandel in ostdeutschen Regionen beschäftigt sich Sven Gatter. Um Fragen der Identität in gesellschaftspolitischen und familiären Umfeldern kreisen auch die Positionen von Paula Winkler und Ina Schoenenburg. Und Julian Röder untersucht Aspekte von Macht und Ökonomie in einer globalisierten Welt.
Mit ihren Positionen produzieren die Künstler*innen der Umbruchsgeneration neue Formen des gesellschaftlichen und kulturellen Wissens. Sie schaffen Alternativen für eine Erinnerungskultur jenseits von Nationalfeiertagen oder starren Monumenten. So liefern sie wichtige Perspektiven für das kollektive Gedächtnis von morgen, Modi der Aufarbeitung und – ihr vielleicht wichtigster gesellschaftlicher Beitrag – kritische Bilder von Deutschland und Europa.
(Sabine Weier)
1 Boris Buden: In den Schuhen des Kommunismus. Zur Kritik des postkommunistischen Diskurses, S. 357, in Boris Groys u.a. (ed.), Zurück aus der Zukunft, Suhrkamp, Frankfurt 2005
2 The Forgotten Pioneer Movement – Guidebook, Ausstellungskatalog, District Berlin, Textem Verlag, Hamburg 2014
3 Dieter Roelstraete: The Way of the Shovel: On the Archeological Imaginary in Art, e-flux Journal #4, 2009
Beitrag im Arte-Journal
ENGLISH
October 2015 marked the twenty-fifth anniversary of German Reunification – a process which continues into the present day on diverse levels. The initiative Perspektive hoch 3 (e.V.) staged an exhibition on the occasion of this anniversary in cooperation with the Freundeskreis Willy-Brandt-Haus and the Stadtgalerie Kiel. It showcased photography and video works by Sven Gatter, Anne Heinlein, Margret Hoppe, Marc Marquardt, Andreas Mühe, Julian Röder, Ina Schoenenburg, Luise Schröder, and Paula Winkler. All of them were born in the German Democratic Republic in the 1970s and 1980s, a generation that has stirred debate in recent years as „Dritte Generation Ostdeutschland“ (Third Generation East Germany) or „Wendekinder“ (Children of the Change).
„The Third Perspective“ explores how the experience of this historical transformation impacts the lives and artistic practice of the photographers in post-Reunification Germany. Which subjects lie at the focus of their work? How do they treat issues of origin, identity and globalization? What spaces of contemplation do they create through the medium of photography? Video portraits of the artists by Dörte Grimm and Nadja Smith accompany the exhibition and highlight the role of key events in the artists‘ biographies.
Trailer und Installationsansichten / Trailer and installation views: Nadja Smith, Projekt-Webseite / project website