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Zurück zum Anfang 10/2018

Thüringen ist eines der waldreichsten Bundesländer. Hochmoore, Bach- und Flussauen, Fichtenwälder, hier und da ein Buchenhain. Zwei Geschichten prägen den Wald: die der Natur und die der menschlichen Eingriffe in sein Ökosystem. Edelmetalle, Mineralien und Kalisalze wurden hier gefördert. Nahe der ehemaligen Grenze sind noch immer Personenminen in der Erde. In den 1980er Jahren fiel saurer Regen. Die Fichten färbten sich gelb. In den 1990er Jahren erholte sich der Wald. Dann wurde die A71 gebaut, ein Einheitsprojekt. Sebastian Pütz erinnert sich an den Anblick der Schneisen, die für die Trasse in den Wald gehauen wurden. Interventionen in Landschaften – Stromleitungen, Highways, Industrieparks – interessierten in den 1960er und 1970er Jahren auch die New Topographics-Künstler, wie Lewis Baltz oder Stephen Shore. Politisierte Landschaft ins Bild setzen, das beschäftigt anfangs auch Sebastian Pütz. Für sein Vordiplom an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig fotografiert er in der Peripherie Marseilles. Dann im Thüringer Wald.

Viel später münden bei diesen Streifzügen entstandene Aufnahmen in der Serie „Bild“ (2015). Dazwischen liegen noch mehrere Jahre, die Sebastian Pütz im Atelier verbringt. Die Arbeit am Sujet wird dort, wie der vom Künstler gewählte Titel schon sagt, zu einer Arbeit am Bild, zu einer substanziellen Auseinandersetzung mit dessen Materialität und Historizität. Das Sujet rückt immer mehr aus dem Fokus. Der gemachte Wald findet sich schließlich im gemachten Bild. Am Ende gehen noch 15 im Thüringer Wald fotografierte Fichten in die Kompositionen ein. Sebastian Pütz vergrößert und vervielfältigt sie, schneidet sie auseinander, klebt sie an der Atelierwand zu einem neuen Waldstück zusammen und fotografiert dieses ab, zusammen mit einem Stück Wand als fiktivem Passepartout. Die so entstandenen sechs Bilder präsentiert er im Maßstab 1:1. Das Thema der vom Menschen veränderten Landschaft transferiert er metaphorisch in Schnittkanten, Klebebänder und in eine grafische Monotonie, die an Forstwirtschaft denken lässt.

An der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig studierte Sebastian Pütz unter anderem bei Timm Rautert. Dessen „Bildanalytische Photographie“ (1968 – 1974) ist ein Standard der jüngeren Kunstgeschichte: Rautert untersuchte mit diesem Werkkörper die Bedingungen des fotografischen Bildes, mit analogen Fotografien in Schwarzweiß und Farbe, Kombinationen von Bild und Text und eingehenden Untersuchungen des Materials seines Mediums, um so das Verhältnis von fotografischer Wahrnehmung und Wirklichkeit zu studieren. 1 Rautert sprach von einer „Grammatik der Fotografie“. Bei Sebastian Pütz führte die Arbeit am Bild geradezu zu dessen grammatikalisch-analytischer Dekonstruktion.

Für die Unikate seiner neuesten Serie „Color“ (2018) reduzierte er das Motiv auf je eine der drei neben Schwarz im Digitaldruck verwendeten Farben Cyan, Magenta und Yellow. Dafür zog er Fotopapier durch mit Druckertinte gefüllte Becken. Das Format entspricht, wie bei „Bild“, den Breitenmaßen analoger Fotopapierrollen. Die sechs Fotografien aus „Bild“ vermitteln den Eindruck, es könne sich um unterschiedlich große Reproduktionen eines einzigen Bildes handeln. Aber diese Möglichkeit der Fotografie wird gerade nicht erfüllt, wie es der Künstler selbst formuliert. Auch andere Erwartungen werden nicht erfüllt. Der Bildraum ist flach und gleichförmig, mutet grafisch an, ein Betrachterstandpunkt ist quasi nicht vorhanden. Einzelne Ausschnitte wiederholen sich hier und da, die Aufnahme ist nicht zu einem Zeitpunkt entstanden, sondern zu vielen, wir sehen nicht einen Ort, sondern viele. Es handelt sich nicht um einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit, wie der erste Anblick vermuten lässt, sondern um viele. „Bild“ präsentiert er im Hochformat und nicht etwa im Querformat (im Englischen bezeichnenderweise landscape genannt) und konterkariert so gängige Vorstellungen von Landschaftsfotografie. Pütz überlässt nichts dem Zufall, seine Auseinandersetzung mit der Materialität und Historizität der Fotografie geht ins Detail. Rahmen lackiert er in einer RAL-Farbe, die jener der zur Kalibrierung der Belichtung genutzten Graukarte entspricht.

Es ist sicher kein Zufall, dass die künstlerische Entwicklung von Sebastian Pütz mit dem Übergang der analogen zur digitalen Fotografie zusammenfällt. „Zu Beginn meines Studiums war die Verwendung von analoger Technik der Normalfall. Es war nicht absehbar, dass die analogen Produktpaletten von Agfa, Kodak und Fuji sich zügig reduzieren beziehungsweise teilweise verschwinden würden. Als ich einige Jahre später die Kunsthochschule verließ, gab es in der Kameraausleihe mehr digitale Kameras als analoge Technik. Man ließ sich seine Bilder vom Epson-Drucker ausdrucken, statt viele Stunden im dunklen Fotolabor zu verbringen,“ erinnert er sich. Wirklichkeit entstand jetzt immer mehr in Bildern und für Bilder. Und die Verschiebung von der analogen zur digitalen Fotografie brachte vor allem eine Verschiebung weg von einem Schwerpunkt auf der Produktion von Fotografie hin zu einem auf ihrer Distribution/Rezeption mit sich, sowie die Infragestellung von Autorenschaft und der Originalität des Kunstwerks. Und so ist es nur konsequent, dass Sebastian Pütz in den Arbeiten „Negativ“ (2015) und „Window“ (2018) quasi vom Produzent/Autor zum Rezipienten wird und diese Entwicklung spiegelt.

Doch noch einmal zurück zum Anfang. In den Serien „Negativ“ und „Window“ beschäftigt sich Sebastian Pütz mit William Henry Fox Talbot. Während durch Louis Daguerres fotografisches Verfahren, die Daguerreotypie, lediglich ein nicht reproduzierbares Positiv entstand, ermöglichte Talbots Negativ-Positiv-Verfahren die Reproduzierbarkeit des fotografischen Bildes und damit das transformatorische Potenzial der Fotografie als Kulturtechnik.2 Erst die Digitalisierung sollte das Negativ-Positiv-Verfahren ablösen, das Prinzip der Reproduzierbarkeit aber beibehalten und die Infrastruktur dafür in ungeahntem Ausmaß erweitern. Für „Negativ“ rief Pütz mithilfe der Suchmaschine Google digitale Reproduktionen von Fotogrammen auf, die Talbot im Zuge seiner Forschung um 1840 geschaffen hatte. In der Umgebung seines Wohnsitzes Lacock Abbey sammelte Talbot, der ein ausgeprägtes botanisches Interesse hatte, verschiedene Pflanzen, legte sie auf lichtempfindliches Papier und drückte so die der Wirklichkeit entnommenen Objekte regelrecht als Motiv auf dem Papier ab.

Diesen Prozess ahmte Sebastian Pütz nach, indem er im dunklen Atelier (nur beleuchtet von einer alten Dunkelkammerleuchte und dem Bildschirm) ein Stück Schwarzweiß-Barytpapier auf den abgeschalteten Monitor legte. Anschließend schaltete er ihn kurz an und gleich wieder ab, belichtete so das aufgelegte Papier, entwickelte das Bild im bereitstehenden Chemiebad, fixierte und konservierte es. Auf dem Monitor war ein stark vergrößerter Ausschnitt eines der Talbot-Fotogramme aufgeflackert. Pütz schob nun den Ausschnitt etwas weiter und wiederholte den Prozess an mehreren Tagen so lange, bis er aus den Teilen sein Motiv montieren konnte, im Fall von „A peony leaf above leaves of a species of chestnut“ (2015–2016) zu einem Tableau in der Größe von 149,7 × 213,7 Zentimetern mit 100 Abzügen. An den Bildrändern ist jeweils das Browser-Fenster zu sehen und damit zum Beispiel auch der Zeitpunkt der Belichtung. Der Referent ist jetzt nicht mehr nur die Pflanze oder das Talbot-Fotogramm, sondern zuallererst die im Internet für jeden verfügbare Datei. Die Barytabzüge – Unikate – befestigt der Künstler mit Klebeband im nassen Zustand (eine übliche Labormethode, um das Wellen des Barytpapiers beim Trocknen zu vermeiden) auf einer Platte.

Auch „Window“ entstand im Atelier. Per Google Street View, einem US-amerikanischen Dienst, der einen großen Teil der Welt mit Hilfe fotografischer Aufnahmen kartografiert, machte sich der Künstler auf nach Lacock Abbey und fand schließlich eine Panoramaaufnahme der alten Abtei mit jenem Park, in dem Talbot sehr wahrscheinlich seine Pflanzen sammelte. Auch dieses Mal zoomte er in das Bild hinein, nur fotografierte er die Ausschnitte mit einer Digitalkamera ab, wieder so, dass der Browser mit allen dort auffindbaren Informationen – etwa den Zeitsprüngen, teilweise lagen Tage und Wochen zwischen den Aufnahmen, – Teil des Motivs ist. Am Ende entstand ein (wiederum abfotografiertes) Tableau aus 20 Fotografien auf einer Fläche von 180 × 325 Zentimetern. Die Einzelbildgröße von 41,59 × 62,31 Zentimetern entspricht maßstäblich der Größe des lichtempfindlichen Chips (Super-CCD-Sensor) der digitalen Kamera.

Der Titel „Window“ verweist auf das Interface am Computerbildschirm, bis heute nutzen Betriebssysteme das Fenster als Ordnungsprinzip. Aber er verweist auch auf eines der ikonischsten Sujets der Kunstgeschichte. Das Fenster steht für den Blick des Künstlers (und Betrachters) auf die Wirklichkeit, die Beziehung von Kunst und Wirklichkeit. Es rahmt einen Ausschnitt der Wirklichkeit (wie die Formate der Malerei, Zeichnung oder Fotografie). Es taucht zum Beispiel in den Gemälden Jan Vermeers auf. Caspar David Friedrich malte zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Fenster seines Ateliers mit Blick nach draußen. Auch jenes Bild von Joseph Nicéphore Nièpce aus dem Jahr 1826, das als erste erfolgreich aufgenommene Fotografie überhaupt gilt und nach acht Stunden Belichtungszeit per Camera Obscura auf einer Zinnplatte fixiert wurde, war der Blick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers. Und ein auf 1835 datiertes, im Negativ-Positiv-Verfahren entstandenes Bild von Talbot, das älteste noch vorhandene, zeigt ein Erkerfenster von Lacock Abbey, ebenfalls aufgenommen aus seinem Arbeitszimmer heraus. Das Fenster ist, von außen, auch auf einer der Aufnahmen von „Window“ zu sehen.3

Wie Talbot geht es auch Sebastian Pütz um eine Selbstdarstellung des Mediums Fotografie. Seine Bilder referieren zuallererst auf sich selbst. Für die Serie „Abbildung“ (2016) collagierte er Kopien von Zeichnungen von Bäumen aus botanischen Bestimmungsbüchern unterschiedlicher Epochen, wieder mithilfe des Klebebands, anschließend fotografierte er die Collagen ab. Für Talbot war weniger der künstlerische Aspekt der Fotografie relevant als vielmehr die Möglichkeit, das Zeichnen, das Kopieren der Wirklichkeit zu perfektionieren, wie der Titel seiner berühmten Schrift „Der Stift der Natur“ (The Pencil of Nature, 1944) veranschaulicht. „Man hat oft gesagt – und es ist bereits sprichwörtlich geworden –, daß es keinen Königsweg des Lernens gibt. Aber das Sprichwort trügt, denn es gibt ganz sicher einen Königsweg zum Zeichnen-Lernen. Und eines Tages, wenn er besser erkannt und erkundet ist, werden ihn wohl viele beschreiten. Schon jetzt haben einige Amateure den Stift niedergelegt und sich mit Chemikalien und Kameras ausgerüstet,“ schrieb er.4 Der Dialog von Fotografie und Zeichnung, wie jener in Jeff Walls „Adrian Walker, artist, drawing from a specimen in a laboratory in the Department of Anatomy at the University of British Columbia, Vancouver” (1992), einer Fotografie, die den Künstler Adrian Walker beim Anfertigen einer anatomischen Zeichnung zeigt, prägt die Arbeit von Sebastian Pütz schon lange. Den Dialog zwischen den Medien beschließt er in der Serie „Abbildung“, indem er jeder Aufnahme den ihr durch die digitale Kamera zugewiesenen Titel gibt, etwa „_DSC8209“.

Abschließend möchte ich noch auf einen Aspekt eingehen, der für die Zeichnung, die Malerei und die Fotografie im Allgemeinen sowie für das Werk von Sebastian Pütz im Besonderen auf mehreren Ebenen eine Rolle spielt: das Raster. Es ist etwa im Motiv des Fensters zugegen. Aber der Künstler greift es auch ganz konkret im Arrangement der Tableaus für „Negativ“ und „Window“ auf. In der Malerei, der Zeichnung und der Fotografie dient das Raster der Übersetzung der Wirklichkeit in ihre Repräsentation. Beim Studium der Perspektive, der Wissenschaft der Wirklichkeit, wie Rosalind Krauss anmerkt, nutzten bereits Meister wie Dürer oder Leonardo das Raster. Die Malerei der Renaissance entdeckte mithilfe des Rasters die Zentralperspektive für sich, die dem Blick auf die Wirklichkeit durch das menschliche Auge oder die Kamera entspricht. Mit der Moderne und der Abstraktion wird das Raster selbst zum Motiv, etwa in den Arbeiten Mondrians, Malewitschs oder später bei Sol LeWitt. Doch ging es diesen Künstlern nicht nur um die Materialität des Rasters. In der Abstraktion der Wirklichkeit fanden sie auch eine spirituelle Dimension. Das Raster ist in dieser Hinsicht also ambivalent.5 Auch bei Sebastian Pütz findet sich diese Ambivalenz. Denn sein Werk ist zwar vom Interesse an der ihm eigenen Materialität und medialen Historizität geleitet, zeigt aber Motive, die sich diesem Ansatz entziehen. Die Pflanze, der Baum und der Wald ordnen sich kulturgeschichtlich zum Mythisch-Spirituellen, gar zum Unheimlichen, Unergründbaren. Und sie können politisch aufgeladen sein, wie es beim Thüringer Wald der Fall ist. Zwischen Form und Motiv entsteht ein Spannungsfeld, das zu einer ganzen Bandbreite an Reflexionen einlädt.

Sabine Weier

1 Der Werkzyklus war 2016 im Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden erstmals vollständig zu sehen. Dazu erschien die Publikation: Timm Rautert. Bildanalytische Photographie 1968 – 1974, hrsg. von Kunstfonds/Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Stephanie Buckon, Spector Books: Leipzig 2016.

2 Den Einfluss der technisch ermöglichten, massenhaften Reproduktion von fotografischen Bildern auf die Kunst und die Wahrnehmung der Wirklichkeit reflektierte Walter Benjamin schon in seinem 1936 publizierten Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“.

3 Zum Sujet des Fensters in der Kunstgeschichte konzipierte und realisierte Sabine Rewald 2011 die Ausstellung „Rooms with a View: The Open Window in the 19th Century“ am Metropolitan Museum of Art (MET). Dazu erschien ein gleichnamiger Katalog. Heute befindet sich in der Sammlung des MET auch das Negativ mit Talbots Bild des Erkerfensters von Lacock Abbey. Zum Thema erschien bereits 1955 der Essay „The Open Window and the Storm-Tossed Boat: An Essay in the Iconography of Romanticism” von Lorenz Eitner (The Art Bulletin, 37/Nr. 4, 1955, S. 281 – 290).

4 Henry Fox Talbot, „Der Stift der Natur. 1844“, in: Theorie der Fotografie. Band I – IV 1839 – 1996, hrsg. von Wolfgang Kemp / Hubertus v. Amelunxen, Schirmer/Mosel: München 1999, S. 63.

5 Siehe dazu Rosalind Krauss, „Grids“, in: October, 9, 1979, S. 50 – 64.