Textarchiv

„Vom Raub wissen hier schon die Kinder“ 01/2022, TAZ

Eine Gruppe internationaler Wissenschaftler:innen entwickelt derzeit die Online-Plattform „Digital Benin“, die erstmals die 1897 von britischen Truppen geraubten und heute in Sammlungen weltweit verteilten Benin-Bronzen in Form von Fotos und Daten zusammenbringt. Koordiniert wird die Gruppe vom Museum am Rothenbaum (MARKK) in Hamburg aus, wo der Wissenschaftler Osaisonor Godfrey Ekhator-Obogie und Anne Luther, Expertin für digitales Erbe, das Projekt heute vorstellen.

Im November gab Frankreich erstmals seit Ende der Kolonialzeit jahrhundertealte Kunstobjekte – Thronsitze, Palasttore, Statuen – aus Benin zurück. Was bedeutet das für die Nachfahren des Königreichs Benin?

Osaisonor Godfrey Ekhator-Obogie: Die Geschichte des Raubs kennen hier schon die Kinder. Auf diesen Moment haben praktisch alle gewartet, viele haben nicht mehr daran geglaubt, dass er in ihrer Lebenszeit noch kommen würde. Für uns sind die restituierten Objekte Vorfahren in Gefangenschaft, die nachhause kommen, wie Prinz Gregory es formulierte. Zur Rückgabezeremonie kamen Menschen aus der gesamten Region, es war bewegend. Man kann sich vorstellen, wie wir dem Tag entgegenfiebern, an dem die gesamte Sammlung wieder hier ist.

Wird die Website „Digital Benin“ erstmals einen vollständigen Überblick über die geraubten Objekte geben?

Anne Luther: Es existieren bereits Publikationen, die einige der Objekte oder Gruppen aus verschiedenen Museumssammlungen enthalten. Aber wir katalogisieren nun erstmals alle Objekte und Informationen zu ihnen, etwa zu ihrer Provenienz- und Ausstellungsgeschichte, um sie digital zugänglich zu machen. So ermöglichen wir es zum Beispiel auch, über die Suche in den Datensätzen aus verschiedenen Museen Verbindungen zwischen den Objekten herzustellen. Die narrativen Reliefs etwa, die sich aufeinander beziehen, aber vereinzelt wurden, können dann alle zusammen aufgerufen werden.

Der Restitutionsprozess hat gerade erst begonnen, auch das MARKK hat angekündigt, die Benin-Bronzen aus seiner Sammlung zurückzugeben. Was wird das Projekt zur Restitutionsdebatte beitragen?

OGEO: Die Entscheidung, welche Objekte zurückgegeben werden, liegt nach wie vor bei den Institutionen, in deren Sammlungen sie sich befinden. Über ihre Digitalisierung bringen wir die Objekte aus allen Teilen der Welt zunächst online zusammen. Durch die Offenlegung der Daten wird es künftig aber möglich sein, Restitutionsforderungen gezielter anzugehen.

Wissenschaftler:innen in der Herkunftsregion der Objekte hatten nie die Möglichkeit, diese und damit ihre eigene Geschichte zu erforschen. Dafür ist der digitale Zugang zu den Objekten sicher kein Ersatz – aber hilfreich?

OGEO: Das gehört zu den Gründen, warum wir auf die Rückkehr der Objekte bestehen. Während sich europäische oder nordamerikanische Wissenschafler:innen bisher vor allem auf ästhetischer Ebene für diese Objekte interessiert haben, wollen wir lernen, was in diesen Dokumenten an Geschichte eingeschrieben ist. Den meisten Historiker:innen hier ist es aber nicht möglich, die Welt zu bereisen, um die Objekte zu besuchen. Das wäre aber wichtig, um mehr über ihren kulturellen Wert zu erfahren. Und diese Kultur ist lebendig, das wurde viel zu lange ignoriert.

AL: Deswegen ist die Arbeit von Godfrey und anderen Wissenschaftler:innen für das Projekt auch so wichtig. Sie machen die Kontexte der Objekte, die sich etwa in Liedern oder oralen Traditionen fortschreiben, zugänglich und lassen die Gebräuche und Bräuche um sie aufleben. Auf „Digital Benin“ werden zum Beispiel auch Begriffe aus der Edo-Sprache abrufbar sein. Erst in diesem Zusammenspiel entsteht ein volles Bild.