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„Nie mehr werde ich ein Huhn sein!“ 02/2023, TAZ

Margaret Raspé presst das Huhn auf ein weißes Tuch im Gras, stellt sich mit den Füßen von hinten auf dessen Flügel und schneidet ihm den Kopf ab. Das Tuch färbt sich rot. Wir sehen die Hände der Künstlerin in Aktion: Sie filmt die Schlachtung mit einer Super-8-Kamera, die sie auf einen Baustellenhelm montiert hat. Ihr Blick wechselt zwischen dem zuckenden Hühnerkörper und dem abgetrennten Kopf hin und her. Noch einige Male geht der Schnabel auf und zu. Dann rupft sie das Huhn und weidet es aus.

Harter Schnitt: Jetzt hält Raspé ein Tiefkühlhuhn Marke Wiesenhof in die Kamera, befreit es aus seiner Plastikhülle, reibt es mit Salz und Paprika ein und schiebt es in den Ofen. „Oh Tod, wie nahrhaft bist du“ entsteht Anfang der 1970er Jahre zusammen mit weiteren Helmkamerafilmen. Die meisten davon zeigen Raspé, also ihre Hände, bei der Hausarbeit: beim Abwaschen, Kuchenbacken, Schnitzelschlagen.

Zusammen mit weiteren Arbeiten sind sie nun in ihrer ersten Werkschau überhaupt zu sehen. Und die ist längst überfällig – Raspé wird in diesem Jahr 90. Anna Gritz, seit Mitte letzten Jahres Direktorin des Hauses am Waldsee, hat sie für das Berliner Kunsthaus kuratiert. Auf Raspés Arbeit war sie zum ersten Mal in London aufmerksam geworden. Dort und auch in New York sei Raspé im Kontext des Experimentalfilms enthusiastisch aufgenommen worden, sagt Gritz. In Deutschland hingegen geriet ihr Werk in Vergessenheit, bis jetzt.

Ende der 1950er Jahre hatte Raspé Kunst in München und Berlin studiert. Dann heiratete sie, bekam drei Töchter. Es vergingen mehr als zehn Jahre, bis sie in der Küche ihrer Villa im Berliner Bezirk Zehlendorf unweit des Hauses am Waldsee zu filmen begann und damit ihre künstlerische Tätigkeit aufnahm. Nach der Trennung von ihrem Mann behielt sie die Villa, lebte dort mit ihren drei Töchtern.

Bald öffnete sie es für Künstler:innen, vermietete Zimmer, um ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern, machte Ausstellungen im Garten, hielt einen Salon in der Küche ab. In dieser kochte sie für die Wiener Aktionisten, die regelmäßig zu Gast waren, und für Fluxuskünstler:innen, die durch Stipendien des DAAD nach Deutschland kamen. „Von all diesen Strömungen finden sich Spuren in Raspés Werk“, sagt Gritz. Monatelang saßen die Kuratorin und ihr Team fast wöchentlich in dieser Küche und führten Gespräche mit Raspé, um die Ausstellung vorzubereiten.

„Oh Tod, wie nahrhaft bist du“ markiert einen Wendepunkt im Leben Raspés. „Als ich das Huhn tötete, habe ich auch eine Vorstellung von mir selbst getötet: Du blödes Huhn. Nie mehr werde ich ein Huhn sein! Ich habe ihm den Kopf abgeschnitten, weil Frauen ja nicht selber denken sollten“, sagte Raspé einmal in einem Interview. Als Frau in einem männlich dominierten Milieu blieb ihre künstlerische Tätigkeit so brotlos wie die Reproduktionsarbeit, die sie als Hausfrau und Mutter leistete.

In einer Vitrine mit Dokumenten aus Raspés Archiv ist ein maschinengeschriebener, mit handschriftlichen Notizen versehener Text ausgestellt. Darüber steht der Titel „Arbeitszusammenhänge“. Raspé schreibt darin, es sei ihr bei den Helmfilmen um einen Handlungsraum gegangen, der damals „nicht im Bewusstsein integriert“ gewesen, „nicht angesehen als Arbeit, als zu vernachlässigen beurteilt“ worden sei. Diesen in der Kunst zu bearbeiten, sei schon gar nicht möglich gewesen.

Auch die US-amerikanische Künstlerin Martha Rosler wagte sich 1975, kurz nach Raspé, mit ihrer ikonischen Arbeit „Semiotics of the Kitchen“ offensiv an das Thema Hausarbeit. In der Videoperformance steht Rosler, die zu dieser Zeit genauso wie Raspé alleinerziehende Mutter war, in einer Küche, frontal zur Kamera, zählt wie fremdgesteuert in alphabetischer Reihenfolge Gegenstände wie einen Fleischklopfer und einen Eispickel auf, hält die Gegenstände ins Bild und führt gestisch ihre Anwendung vor. Sie muten dabei mehr wie Mordwaffen als wie Küchenutensilien an.

Während Rosler zur festen Größe des in jüngerer Zeit aufgearbeiteten Kanons der feministischen Kunst wurde, taucht Raspé in den Sammlungen und Standardwerken dazu, etwa in „Feministische Avantgarde“ der Kunsthistorikerin Gabriele Schor und der Wiener Sammlung Verbund, nicht auf – völlig zu Unrecht. „Oh Tod, wie nahrhaft bist du“ ist eine Schlüsselarbeit der feministischen Kunst dieser Zeit.

Das Tiefkühlhuhn steht, Pars pro Toto, für die industrielle Fertigung von Lebensmitteln und verweist so auch auf die Zusammenhänge von Lohnarbeit und Reproduktionsarbeit, wozu die Philosophin Silvia Federici ab den 1970er Jahren theoretisierte. Damals hatte Federici gerade auch die Kampagne „Lohn für Hausarbeit“ mit initiiert.

Mit ihren Helmfilmen erkundet Raspé vor allem die Automatismen im Feld der Arbeit. Als Hausfrau sei sie im automatischen Funktionieren eingesperrt gewesen, zitiert Gritz aus einem Gespräch. Raspé experimentierte auch mit der automatischen Kunstproduktion, wie man sie aus dem Surrealismus kennt.

Für „Die Selbstbewegungen des Frautomaten“ filmte sie sich 1977 mit der Helmkamera beim Zeichnen, das sie stundenlang praktizierte, auch unter dem Einfluss von Alkohol oder Marihuana, um zu unterschiedlichen Ergebnissen zu kommen. In schnell ausgeführten Bewegungen mit schwarzem Stift auf weißem Papier entstanden mal abstrakte Kringelwolken, mal eine aus einer einzigen Linie gezeichnete Hand.

In den 1980er Jahren filmte sie sich mit ihrer Helmkamera beim Malen mit den Grundfarben Blau, Rot und Gelb. Die Be­tra­che­r:in­nen folgen dem Pinselkopf beim Eintauchen in die Farbtöpfe und beim mal hektischen, mal ruhigen Auftragen der Farben auf eine große Leinwand.

Selbst wer zu den wenigen gehört, die Raspés Helmfilme kennen, dürfte in der Ausstellung überrascht werden. Sie schuf Installationen, Performances, experimentierte mit Klang und Fotografie. Darüber hinaus schrieb sie Texte und eine Reihe konkreter Gedichte. Ihr Mann taucht als G. in einem davon auf. Darin beschreibt sie ihren Tag als Hausfrau und Mutter: Kinder wecken, Frühstück machen, Kinder zur Schule bringen, wieder abholen, kochen und so weiter.

Den Text hat sie auf einem weiteren Blatt auf ein Gedicht in Versform reduziert, in dem neben Uhrzeiten fast nur noch und immer wieder „Treppe rauf, Treppe runter“ steht, bis abends. Darunter der Satz: „G. fragt: was hast du den ganzen Tag getan?“ Poetisch muten auch Raspés Helmfilme an. Im Abwasch machte sie „Sekundenskulpturen“ aus, wie sie es nannte, zufällig aufgetürmte Tassen und Teller im schimmernden Wasser, die sie auch fotografisch festhielt.

Raspé nahm viele der Themen vorweg, die heute in der zeitgenössischen Kunst virulent sind, etwa Spiritualität, Heilung oder Umweltverschmutzung. 1990 stieg sie im weißen Kittel in den völlig von Industrieabfällen verseuchten Fluss Bzura in der Nähe der polnischen Stadt Łódź, wo sie an einem Kunstprojekt teilnahm. Im eisigen Wasser sang sie Obertöne – eine Methode, bei der man den Körper zum Schwingen bringt –, bis ihre Stimme versagte. Als sie wieder aus dem Wasser stieg, war der Kittel von schwarzen Flecken übersät.

Die Performance ist in der Ausstellung in Form einer großformatigen Fotodokumentation präsent. Gritz und ihr Team haben aber auch Installationen aus den 1990er Jahren aufwendig rekonstruiert, etwa Arrangements aus klobigen kleinen Fernsehgeräten, an deren Bildschirmen angetrocknete Bienenwaben angebracht sind, durch die das Flackern der Bilder und Geräusche dringen. Auf einem runden Tisch mit weißem Tischtuch platziert, umgeben von leeren Stühlen, bilden sie die Installation „Fernsehfrühstück“. Die Waben stehen nicht nur für Natur, sondern lassen sich auch als Chiffre für Arbeit lesen.

Nachdem Gritz und ihr Team Raspés Œuvre nun erstmals umfassend aufgearbeitet haben, bleibt die Frage, wie es damit weitergeht. Zwar solle die Ausstellung Raspés Arbeiten zuallererst einer neuen Generation von Künst­le­r:in­nen und Interessierten zugänglich machen, sagt Gritz, aber es sei eben auch zu überlegen, in welche Sammlung die rekonstruierten Werke gehörten. Noch ist Gelegenheit, diese Gespräche direkt mit Margaret Raspé zu führen.