Kunst im Briefkasten
Mit Blick auf die Mail Art-Avantgarde der 1960er und 1970er Jahre will die transmediale soziale Netzwerke neu denken
Ein komplexes System aus gelben Schläuchen zieht sich durch das Haus der Kulturen der Welt, rauscht, zischt und spuckt Kapseln für Empfänger an verschiedenen Stationen aus. Darin enthalten sind Nachrichten von transmediale-Besuchern oder Kunst. Mail Art-Künstler aus der ganzen Welt haben vor dem Festival über 100 Kapseln befüllt. Besucher öffnen sie und finden darin Anweisungen für kurze „Performances“, etwa ein rotes Frottee-Stirnband mit der Aufschrift „Support the Arts“ und die Aufforderung, man solle ein Foto von sich mit diesem Band machen und es per E-Mail an den Künstler senden.
Klassische Mail Art flattert durchs echte Postsystem. Künstler gestalten Briefe und Postkarten, neben dem Inhalt auch Umschläge, etwa in Form von selbst hergestellten Stempeln oder Briefmarken. Anna Banana etwa verbreitete ihre Briefmarken mit Bananenmotiven auf der ganzen Welt. In den 1960er Jahren entwickelte sich die Mail Art in den USA aus der Fluxus-Szene heraus und wurde schnell zu einer lebendigen Bewegung. Gründervater Ray Johnson griff Praktiken auf, die schon die Futuristen und Dadaisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts angewendet hatten, um mit den Konventionen einer konservativen Kunstwelt zu brechen. Mail Art tut das auf die brutalste Weise. Sie hebelt Marktmechanismen aus, indem die Künstler ihre Werke kostenlos an Empfänger senden, anstatt sie zu verkaufen.
Viele Mail Art-Künstler erhielten jede Menge Post von Kollegen und wurden so selbst zu Sammlern. Über die weltweit größte Mail Art-Sammlung aber verfügte das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Trotz der massiven Überwachung des gesamten Postverkehrs entwickelte sich in der DDR um den Künstler Robert Rehfeldt eine aktive Mail-Art-Szene. Bei der transmediale gaben zwei ihrer Protagonisten, Karla Sachse und Lutz Wohlrab, Einblick in eine bewegte Zeit. „Mail Art öffnete für uns ein Fenster zur Welt,“ beschreibt Wohlrab die Faszination, die das Genre auf die eingesperrten Künstler ausübte. Sie korrespondierten in den 1970er und 1980er Jahren mit internationalen Künstlern, schickten Briefe in die USA und auch nach Italien, wo sich durch Figuren wie Vittore Baroni, der auch einige Kapseln für die Installation der transmediale befüllte, ebenfalls eine lebhafte Gruppe zusammenschloss.
Im Osten Europas bekam die Mail Art schnell einen aktivistischen Charakter. Die Künstler lehnten sich gegen die Staatsgewalt auf, meist in für Mail Art typisch humoristischer Tonalität. Adressaten waren oft die Stasi-Mitarbeiter selbst, an sie richtete sich etwa der Stempel „Bitte sauber öffnen“. Die gesamte Post der DDR flatterte durch eine Zentrale, wo Stasimitarbeiter an Dampftischen verdächtige Briefe öffneten. Die Post der Mail Art-Künstler kam selten an, viele landeten wegen ihrer angeblich staatsfeindlichen Aktivitäten im Gefängnis oder wurden schlicht in den Westen abgeschoben. Nachdem 1982 Gerd Börners Ausreise nach Westberlin genehmigt worden war, sendete er aus seiner neuen Heimat eine Postkarte mit Selbstporträt, das den Künstler mit grotesk verzerrtem Gesicht zeigt, und der Aufschrift: „Wer zuletzt lacht, lacht im Westen.“
Das analoge Genre hat mit der zeitgenössischen digitalen Kultur viel gemeinsam, zum Beispiel die Kommunikation in globalen Netzwerken oder die Organisation über Adresslisten. Schon in den 1960er Jahren nahm die Mail Art Funktionsweisen und auch Diskurse vorweg, die Netzwerkkultur heute prägen, wie die zum kostenlosen Teilen von Inhalten. Die Installation im Haus der Kulturen der Welt, ein gemeinsames Projekt der transmediale und der Berliner Künstlergruppe Telekommunisten, bringt beide Themen zusammen.
Funktional ist die Installation der alten Berliner Rohrpost nachempfunden, ebenfalls ein pneumatisches System, das ab 1856 Telegramme durch die gesamte Stadt beförderte und in Ost-Berlin sogar bis in die 1980er Jahre hinein aktiv war. Metaphorisch stehe das gelbe Schlauch-Labyrinth aber für moderne soziale Netzwerke, erklärt Kuratorin Tatjana Bazzichelli. Auch diese Kommunikationsplattformen seien zentral gesteuert. An einer Vergabestelle befüllen „Mitarbeiter“ das System mit den Kaspeln und befördern sie per Luftdruck zu den Besuchern. Hin und wieder bleibt eine Kapsel stecken. Das System sei eben nicht perfekt, beschreibt Bazzichelli, auch soziale Netzwerke können von Hackern angegriffen werden.
OCTO P7C-1 lautet der offizielle Name des Monstrums, die Telekommunisten präsentieren es bei der transmediale scherzhaft als Prototypen, Besucher sollen die Chance nutzen und schnell in das lukrative Projekt investieren. Das veranschauliche, dass man ein neues soziales Netzwerk nur im großen Stil realisieren könne, wenn es attraktiv für das Kapital sei, kommentiert Telekommunist Dmytri Kleiner. Ironischerweise werden heute auch Ray Johnsons Arbeiten zu horrenden Preisen gehandelt.