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In ihren Bildern ist die Welt wirklich 10/2016, Springerin

In der Neuen Galerie Graz sitzen 1973 mehrere Personen, porträtieren sich je selbst mit einer Polaroidkamera und lassen die Bilder auf ihren Stühlen zurück. Eine Videoaufnahme davon läuft anschließend im Loop auf einem Monitor gegenüber. Ein Tonbandgerät spielt immer wieder den Satz „Dieses Tonband ist die optische und akustische Vermessung dieses Raumes“ ab, ein weiteres zeichnet die Wiedergabe auf, bis nur noch akustisches Rauschen bleibt. Der Künstler selbst sitzt mit einem Sofortbild in der Hand vor einer mit Sofortbildern, die ihn in ebendieser Situation zeigen, beklebten Wand und überreicht BesucherInnen diese Bilder. Die Situation wird fotografiert, die neuen Bilder werden nach und nach an eine Wand gehängt.

Richard Kriesches „live-, video-, sound-, polaroid-installation“ ist nun wieder in der Neuen Galerie (1) zu sehen, allerdings lediglich als Fotodokumentation. Die Ebenen, die der 1940 geborene Künstler in seinen Arbeiten von damals so eifrig verschränkte und deren Beziehungsgefüge er zu dekonstruieren suchte – Künstler, Kunst, BetrachterIn – sind in dieser Präsentation wieder sauber getrennt. Die Ordnung des Systems Kunst schien mit Fluxus, Neodada und Medienkunst ohnehin nur zeitweise ins Wanken zu geraten. Versuche, „den Kunstraum zu entmystifizieren“, wie Kriesche sein Ausstellungsprojekt beschreibt, (2) muten heute so anachronistisch an wie alte Videobilder auf klobigen Monitoren. Der Diskurs aber, den Kriesche in Arbeiten wie diesen zum Verhältnis von Bild und Wirklichkeit initiierte, ist heute vielleicht noch aktueller als damals.

Als die documenta 6 1977 erstmals Fotografie und Videokunst in ihren Mittelpunkt rückte, war die anfängliche Euphorie in Bezug auf neue Medien wie das Fernsehen längst abgeebbt, die Kunst artikulierte die neue medienkritische Haltung. Kriesche setzte in zwei identischen Räumen je ein Zwillingsmädchen vor eine Videokamera, die sie beim Lesen in Walter Benjamins paradigmatischem Text „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ aufnahm, und übertrug die Aufnahme live im jeweils anderen Raum. Die Verdoppelungen sollten BesucherInnen zum Nachdenken darüber anregen, mit welcher Wirklichkeit sie es zu tun hätten. Im Videobild sei Macht eingeschrieben wie in keinem anderen Bild, sagt Kriesche in einem Fernsehinterview über seinen documenta-Beitrag; gäbe es die Technik nicht, gäbe es auch das Fernsehen nicht.

Wie sich Machtdiskurse in Informationstechnologien einschreiben und umgekehrt, darum geht es oft in den Erkundungen des 1940 geborenen Künstlers. Für „grenzen yug-aus“ (1981) etwa stellt er gleichförmig inszenierte Nachrichten aus dem österreichischen und dem jugoslawischen Fernsehen gegenüber, um die „Unterschiedslosigkeit der Medientechnologien über alle ideologischen Unterschiede hinweg“ zu demonstrieren. Solche manifestartigen Maximen begleiten Kriesches Arbeiten und Medientheorie. Kunst begreift er als Methode, mit der er Schichten sozialer und politischer Wirklichkeiten aufdeckt und forschend in sie eintaucht. Wirklichkeit ist für Kriesche wie für die MedientheoretikerInnen seiner Zeit nicht ohne mediale Konstruktion zu denken. Medien reproduzieren sie nicht technisch, sondern produzieren eine eigene Wirklichkeit, ein Simulakrum (Baudrillard), in dem die technische Beschaffenheit der Medien selbst noch mehr als ihre Inhalte wirksam werden (McLuhan). Die Auflösung der Welt geschehe in Bildern, so Kriesche, in ihren Bildern sei die Welt wirklich.

Joseph Beuys stellte bei der documenta 6 sein Schlüsselwerk „Honigpumpe am Arbeitsplatz“ und sein Bildungsprojekt „Freie internationale Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung“ vor und gab damit Einblicke in die Soziale Plastik, seine Idee von der transformativen Kraft einer Kunst, die in die Gesellschaft wirkt. Auch Kriesche verließ hin und wieder die Institutionen und drang mit Interventionen in den öffentlichen Raum. 1973 stülpte er das Innere einer Grazer Barackenwohnung nach außen, indem er es maßstabsgetreu in Form einer Fototapete außen anbrachte und Videoaufnahmen aus dem Inneren außen übertrug. Kurze Zeit später initiierte er ein Projekt zusammen mit Strafgefangenen. Er wollte deren Isolation in ein „authentisches“ Bild rücken. Es entstanden fotografische Porträts, Videoaufnahmen und Texte, eine Sammlung von Artikulationen der Isolation hinter Gittern, die Kriesche dann in einer collagenhaften Arbeit zusammenführte.

Wie bei Beuys hat Kriesches Kunst immer etwas Didaktisches. Es geht ihm um eine Bewusstseinsveränderung. In gewisser Weise überführt er auch suprematistische Ideen in die Medienkunst. Deutlich wird das bei seinen „Numerischen Systemen“, ungegenständlichen, aus Holz, Lack und anderen Materialien geschaffenen Wandarbeiten aus den späten 1960er Jahren. Schon in der Frühzeit der Digitalisierung setzte sich Kriesche darin mit der Beschaffenheit digitaler Codes und deren visueller Repräsentation auseinander, betrieb die Auflösung des Bildes in ästhetische Algorithmen. Ihn interessierte der numerische Code hinter den Dingen, den er in „geometrische Ordnungsprinzipien“ und „farbliche Grunddaten“ überführte, in quasi-digitale Repräsentationen. Zum Einsatz kam häufig das Quadrat, was natürlich Kasimir Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ (1915) evoziert, die Auslöschung der Ikone, des Bildes. Den Auftritt in einer Sendung über Medienkunst nutzte Kriesche Mitte der 1970er Jahre für eine Performance: Er setzte eine schwarze Augenbinde auf und forderte die Kamera immer wieder auf, näher heranzuzoomen. Der Bildschirm sollte durch die Großaufnahme der Binde schwarz ausgefüllt werden, um den Künstler und die BetrachterInnen an einer Art medialem Nicht-Ort zu vereinen. So nah kam sie dann doch nicht, sonst hätte Kriesche tatsächlich eine Neuinterpretation von Malewitschs schwarzem Quadrat in die Wohnzimmer gebracht.

Fast prophetisch mit Blick auf virtual realities wirkt Kriesches Feststellung, jedes Bild sei beschriebene Wirklichkeit, doch auch „unbeschriebene Wirklichkeit wird in Bildern beschrieben werden“. In seinem Projekt „Digital Suicide Bombers“ von 2004 geht er dem Phänomen einer solchen in Bildern beschriebenen Wirklichkeit nach: Ausgehend von Fotografien aus dem US-amerikanischen Gefangenlager Abu Ghraib, die vor ein paar Jahren im Internet auftauchten und Szenen von Folter und Erniedrigung zeigen, schuf Kriesche eine auf einem Flachbildschirm präsentierte Collage aus diesen mittlerweile ikonischen Snapshots, Videoaufnahmen von Selbstmordanschlägen in Krisengebieten und Texteinblendungen, in denen er über Bilder von Selbstmordattentätern reflektiert, die sich „digitalisiert ins Netz sprengen“. Seinen Beitrag zur Medienkunst und -theorie des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus hat Kriesche am besten selbst zusammengefasst: Es sei nicht eine Frage der Wirklichkeit, ob Kunst eine Wirklichkeit besitze, sondern eine Frage der Kunst, ob in ihren Bildern Bilder für die Wirklichkeit entworfen werden können.

 

(1) Die Neue Galerie, die sich als eine der ersten Institution überhaupt der Medienkunst annahm, hat gerade ein Konvolut von rund 60 Arbeiten Richard Kriesches für ihre Sammlung erworben.

(2) Zur Ausstellung „medienblock-richard-kriesche“ ist ein umfassender Online-Katalog mit Kommentaren Richard Kriesches zu dessen Arbeiten erschienen, aus dem alle Kriesche-Zitate in diesem Text stammen: http://www.m