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Ethik des Sehens 06/2025, Camera Austria

Als Susan Sontag 1977 ihren legendären Essayband On Photography (Über Fotografie) veröffentlichte, wähnte sie sich in einer von fotografischen Bildern überfluteten Welt. Heute, ein halbes Jahrhundert später, hat sich das Bildaufkommen ins Unermessliche gesteigert. Viele von Sontags Thesen lesen sich noch immer sehr gegenwärtig. Etwa die, dass die Fotografie das Erleben ersetze. – Pics or it didn’t happen!

Eine Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn widmet sich jetzt dem Leben und Werk dieser Ausnahmeintellektuellen. Sontag war Literatur- und Filmkritikerin, verfasste Romane, drehte selbst Filme, schrieb über AIDS und ihre eigene Krebserkrankung, war alleinerziehende Mutter und Aktivistin. Als Analystin ihrer Gegenwart beobachtete sie, wie Kunst und Leben, Hochkultur und Pop miteinander verschmolzen. Ihre Texte veröffentlichte sie in der New York Review of Books genauso wie in Vanity Fair.

Die Ausstellung kommt mit wenig Text aus, ist mehr biografisch als essayistisch angelegt. Im Gegensatz zu Sontags Büchern, deren Texte nie illustriert wurden, sind hier viele der Bilder zu sehen, die sie besprach: zum Beispiel von Walker Evans, Eugène Atget oder August Sander. Damit bildet die Ausstellung auch einen auf Europa und die USA fokussierten Kanon ab, den Sontag mit festschrieb.

Zeitlebens beschäftigten sie Bilder von Kriegen und Gräueltaten, so auch in ihrem letzten Buch, Regarding the Pain of Others (Das Leiden anderer betrachten, 2003/2005). Darin setzt sie sich zum Beispiel mit den Bildern von US-Soldat*innen auseinander, die Gefangene in Abu Ghraib foltern. Allein der Umfang des digitalen Bilderstroms verleihe ihnen eine grausame Dimension, befand Sontag, und verstärke den voyeuristischen Drang der Täter*innen.

Schon in On Photography hatte Sontag gemahnt, es gebe eine Grammatik, und wichtiger noch, eine Ethik des Sehens. Sie glaubte daran, dass die Fotografie aufrütteln und Verbrechen durch ihre Dokumentation realer machen könne. Genauso könnten Betrachter*innen aber auch abstumpfen, wenn sie solche Bilder immer wieder sähen. Anders sei das nur bei Bilddokumenten des Holocaust. In On Photography beschreibt Sontag ein Schlüsselerlebnis aus dem Jahr 1945: In einem Buchladen in Santa Monica sieht sie als 12-Jährige zufällig Bilder von Leichenbergen in Bergen-Belsen und Dachau. Ihr Leben sei an diesem Tag in zwei Teile zerfallen – einen davor und einen danach. In der Ausstellung liegt ein Aufklärungsband der alliierten Presse in einer Vitrine unter einer schwarzen Abdeckung. Besucher*innen können sie zur Seite schieben, wenn sie es wollen.

Sontag wurde selbst immer wieder fotografiert, von Peter Hujar, Gisèle Freund, ihrer langjährigen Partnerin Annie Leibovitz und vielen anderen. In Bonn sind zahlreiche ihrer Porträts zu sehen, viele davon auf Buchcovern. Sontag stilisierte sich über solche Fotografien als »public intellectual«, so eine These der Ausstellung, oder wurde dazu gemacht: Sontags Verleger Roger Straus sorgte dafür, dass Porträts von Sontag in Zeitschriften wie der Vogue veröffentlicht wurden. Als Fotografierte fühlte Sontag sich stets unbehaglich. Die Fotografie beschrieb sie als aggressiven Akt, mit dem man sich das fotografierte Sujet gewaltvoll aneignet. Als Beispiel führt sie in On Photography Aufnahmen von Landschaften und Indigenen zur Zeit des US-amerikanischen Siedlerkolonialismus an, ein Thema, das in der Ausstellung nicht vorkommt.

Gleich zu Beginn ist Sontag lebensgroß projiziert auf einem von Andy Warhols Screen Tests (1964) zu sehen – eine schöne Begegnung. In dem 3-minütigen Filmfragment trägt sie eine Sonnenbrille und zieht lässig an einer Zigarette. Das erinnert an die Protagonistinnen der französischen Nouvelle Vague, die Sontag, die Paris neben New York zu ihrem Wohnsitz machte, so bewunderte.

Warhol war begeistert von Sontags Essay »Notes on Camp« (1964), mit dem sie die schrille und genderfluide Ästhetik der queeren Underground-Szene als Kulturphänomen greifbar machte. Viele Künstler*innen griffen sie fortan auf. Zur Illustration dienen ein Ausschnitt aus Jack Smiths queerem Underground-Film Flaming Creatures (1963), der wegen Obszönität beschlagnahmt wurde, und Fotografien von James Bidgood aus den 1960er-Jahren, auf denen ein nackter Jüngling als Pan in einem artifiziellen, farbig leuchtenden Garten posiert. Diese Bilder muten ungemein zeitgenössisch an: Sontags Camp ist in der digitalen visuellen Kultur allgegenwärtig.