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Es bleibt ein Gefühl von Nacktheit 04/2020, Springerin

Ein Blick hinter die Interfaces der Tech-Giganten mit der Netzkünstlerin Joana Moll

SW: Wir führen dieses Gespräch hier über Skype, was unter anderem die Folge hat, dass beachtliche Mengen an CO2 freigesetzt werden. Die Rolle, die das Internet beim Klimawandel spielt, haben Sie zum Gegenstand vieler Ihrer Arbeiten gemacht. DEFOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOREST (2016) etwa zeigt die Menge an Bäumen, die benötigt würde, um das durch Besuche von google.com erzeugte CO2 zu absorbieren. Wie hat sich dieses Interesse in Ihrer künstlerischen Praxis durchgesetzt?

JM: Zuerst habe ich mich mit Materialität beschäftigt. Für mich war immer wichtig, auf welcher Basis die Dinge eigentlich funktionieren. Eines Tages starrte ich dann auf den Bildschirm meines Computers, und mir wurde klar: Das hier kann nicht umsonst sein. Das Internet verbraucht eine enorme Menge an Ressourcen. Mich schockierte, wie wir das völlig aus dem gesellschaftlichen Imaginären ausblenden. Bis 2025 werden 20 bis 25 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs für Kommunikationstechnologien anfallen. Schon 2008 verursachte das Internet höhere Emissionen als die Luftfahrtindustrie. Die Datenmenge, die wir produzieren, nimmt in einem verrückten Tempo zu. Darüber hinaus hat mich schon immer das Verhältnis von Natur, Politik, Technologie, Wirtschaft, Patriarchat und Sprache interessiert. Wir leben in einer Gesellschaft, in der alles miteinander verknüpft sein soll. Aber wir sind mehr als je zuvor abgekoppelt von dem, was tatsächlich geschieht. In Zeiten des Klimanotstands ist das ein kritischer Zustand.

SW: In der Netzkunst laufen alle diese Themen zusammen. Haben Sie sich deshalb für diesen Bereich entschieden?

JM: Ja, Netzkunst ist das Medium, das es mir erlaubt, mit all diesen Interessen zu arbeiten. Das Internet ist wahrscheinlich die größte Infrastruktur, die je aufgebaut wurde. In diese Infrastruktur und die Art und Weise, wie wir sie nutzen, sind viele verschiedene Erzählungen eingebettet. Mit Netzkunst kann man diese Erzählungen verstehen und sie darüber hinaus spekulativ verändern.

SW: Einige Ihrer Arbeiten erinnern ästhetisch an die ganz frühe Netzkunst.

JM: Das war mir nicht bewusst. Aber ja, es stimmt. Die Netzkunst-Pioniere Jodi haben mich sehr inspiriert, da ihre Arbeit gezeigt hat, welch riesiges Potenzial die Netzkunst hat. Sie kann die standardisierte Nutzung von Technologie stören, vor allem wenn es um Interfaces geht – dasjenige, worüber wir heute fast ausschließlich kommunizieren.

SW: Die Ausbeutung von BenutzerInnen-Daten über Interfaces ist eines der großen Themen unserer Zeit und auch Gegenstand Ihrer neueren Arbeiten. Wieso ist es uns eigentlich egal, was hinter den Interfaces, die wir täglich nutzen, vor sich geht?

JM: Ich glaube nicht, dass uns das egal ist. Aber wir sind damit extrem überfordert, da das ganze System sehr komplex und schwer zu verstehen ist. Für The Dating Brokers (2018) habe ich eine Million Dating-Profile von der US-amerikanischen Match Group gekauft, dem größten Online-Dating-Anbieter der Welt, der Plattformen wie Tinder und OkCupid besitzt. Das hat mich 136 Euro gekostet. Meine Hauptfrage war: Woher kommen diese Daten, und warum konnte ich sie so einfach kaufen? Die Dating-Industrie ist auf den kontinuierlichen Fluss von Profilen angewiesen, um ständig neue Gesichter anbieten zu können. Das bringt die Leute dazu, Abonnements zu kaufen, und erhöht die Chance, passende PartnerInnen zu finden. Deshalb ist der Austausch von Profilen zwischen mehreren Plattformen sehr verbreitet. Sie erlauben dies übrigens, wenn Sie sich auf einer dieser Seiten anmelden. Die meisten Profile, die ich gekauft habe, kamen von einer Website namens PlentyOfFish. Das ist nach Tinder die zweitmeist genutzte Plattform in den USA und gehört ebenfalls der Match Group. Ich fand heraus, dass mehr als 200 Unternehmen, die mit der Match Group verbunden sind, diese Profile verkaufen durften. Die Match Group wiederum ist im Besitz eines noch größeren, ebenfalls US-amerikanischen Firmennetzwerks namens InterActiveCorp, wodurch die Zahl der Unternehmen bzw. Dienstleistungen, die ein einziges Profil potenziell nutzen können, etwa 700 umfasst. Das ist massiv.

SW: Der digitale Kapitalismus hat selbst die Liebe monetarisiert. Was sagt das über die heutige menschliche Erfahrung aus?

JM: Ein Teil von uns gehört nicht mehr wirklich zu uns. Er hat ein Eigenleben, und wir haben die Kontrolle darüber verloren. Ich finde das sehr beunruhigend. Wir akzeptieren das, aber es bleibt ein Gefühl von Nacktheit. Erst kürzlich habe ich Fotos meiner Wohnung in Barcelona auf eine Tauschbörse hochgeladen, da ich mit meiner Familie viel reise und Wohnungstausch natürlich praktisch ist. Danach hatte ich das Gefühl, als sei mir ein Teil meiner Intimität genommen worden. Und das passiert ja auch jedes Mal, wenn man sich für einen neuen Dienst anmeldet. Unsere intimen Daten werden von einer großen Zahl von Unternehmen zu Geld gemacht.

SW: Das Geschäft mit personenbezogenen Daten ist auch Thema von The Hidden Life of an Amazon User (2019). Und hier kommt auch der Klimawandel wieder ins Spiel.

JM: Mich hat interessiert, wie viel Energie bei diesem Geschäft eigentlich aufgewendet wird. Ich habe den einfachstmöglichen Einkauf bei Amazon getätigt und ein Buch des Gründers und CEOs Jeff Bezos erstanden. Das System ließ mich zwölf verschiedene Interfaces durchlaufen, die zusammen fast 9.000 Seiten Code generierten. Es dauert etwa 15 Minuten, diese Seiten nach unten zu scrollen. Der größte Teil dieses Codes dient dazu, die Aktivitäten der BenutzerInnen zu tracken und sie dazu zu bringen, mehr zu kaufen. Dabei wird viel Energie verbraucht, und diese wendet vor allem Ihr Computer auf. Wir werden also nicht nur in Form von freier Arbeit, die wir leisten, ausgebeutet, sondern liefern auch noch die Energie, die dafür benötigt wird.

SW: Ihre Werkgruppe Arizona: move and get shot (2011–2014), AZ: the Archive (2015) und The Virtual Watchers (2016) basiert auf einem digitalen Archiv von Überwachungsbildern, die an der Grenze zwischen den USA und Mexiko aufgenommen wurden. Diese haben Sie um Porträts ergänzt, die die Überwachenden selbst auf Facebook hochgeladen haben. Was haben Sie dabei beobachtet?

JM: Die Überwachungskameras sind Teil einer Online-Plattform, auf der eine Gruppe von LandbesitzerInnen der Öffentlichkeit Bilder von vermeintlichen ImmigrantInnen beim Grenzübertritt zur Verfügung stellt. Die Plattform wird vom Bundesstaat Texas finanziert. Die nationale Sicherheit wird quasi an die Zivilbevölkerung ausgelagert. Ob die Menschen, die auf diesen Bildern zu sehen sind, aus Honduras oder aus den USA kommen, ist völlig unklar. Ich habe dann auf die Facebook-Gruppe zugegriffen, in der die Personen, die die Grenze rund um die Uhr von zu Hause aus beobachten, miteinander kommunizieren. Deren Leben war plötzlich völlig exponiert: ihre Familien, wo sie leben, wo sie arbeiten und so weiter. Letztlich ermöglichte das Projekt also, mehr über die BeobachterInnen zu erfahren als über die beobachteten Personen.

SW: Der Cyberfeminismus hoffte einmal auf Freiräume für ermächtigendes Handeln. Doch das Internet hat vor allem patriarchalische Strukturen gestärkt. Wie sehen Sie das?

JM: Wir neigen dazu zu vergessen, dass das Internet auf patriarchalischen Ideen und Funktionsweisen basiert. Es wurde größtenteils von Männern geschaffen und wird auch heute noch vor allem von Männern betrieben. Das erste grafische Interface wurde 1963 in den USA von einer Gruppe weißer Männer entwickelt. Sowohl Wissenschaft als auch Technologie sind durch und durch patriarchalisch geprägte Systeme. Wie Technologien konzipiert sind und wie sie betrieben werden, ist durch genau dieses Denken definiert. Wir alle benutzen diese Interfaces und replizieren damit auch die Werte und Vorstellungen, die ihnen inhärent sind.

SW: Arbeiten Sie schon an einem weiteren Projekt?

JM: Ich recherchiere gerade für ein Projekt über die Auswirkung des Online-Trackings von VerbraucherInnen auf die Umwelt. Ich setze mich dabei genauer mit der Rolle der dabei zur Anwendung kommenden Analytik auseinander. Und auch damit, wie jene Unternehmen, die davon profitieren, für den Energieverbrauch zur Rechenschaft gezogen werden sollten.

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