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Das Schweigen ist ein Problem 06/2018, 8. Festival für Fotografie f/stop Leipzig, Online-Journal

Zwickau, Daun, Kassel. Comic-Zeichner Nino (Paula) Bulling und Autorin Anne König im Gespräch über ihr neues Projekt: drei grafische Kurzgeschichten über drei Akteurinnen, die direkt oder indirekt mit dem NSU zu tun hatten – als aktive Unterstützerin, als scheinbar blasse Verwaltungsbeamte und als Angehörige eines der Mordopfer.

Anne: Ich habe ein Archiv mit Zeitungsausschnitten, die den NSU-Prozess begleiten. Meine Eltern legen seit einigen Jahren eine Art Pressespiegel für mich an. Die Artikel stammen aus der lokalen Zeitung, der Thüringer Allgemeinen in Erfurt. Seit Jahren berichten Reporter darin über den NSU-Prozess. Das fand ich bemerkenswert, denn ich beobachte insgesamt, dass es im Osten Deutschlands zu wenig Aufmerksamkeit dafür gibt. Der Prozess in München ist einfach sehr weit weg von den Orten des Geschehens. Und da ist so eine Abwehr-Haltung, die Leute wollen sich nicht damit beschäftigen. Es gibt auch schon recht viele Arbeiten mit Fokus auf das sogenannte NSU-Trio und Beate Zschäpe. Der Strafprozess in München ist sehr männlich.  Aber es muss doch auch viele Frauen in deren Umkreis gegeben haben. Warum tauchen die nicht auf? Warum sitzen da nur vier Männer, und eben diese Hauptangeklagte auf der Anklagebank in München? Paula und ich haben uns dann darauf verständigt, erst einmal nur weibliche Perspektiven zu wählen, aus verschiedenen Milieus. Das eine ist die Täterperspektive, die zweite Geschichte nimmt die Perspektive einer Verwaltungsbeamten im Bundesamt für Verfassungsschutz ein und die dritte ist die einer Tochter eines der Mordopfer. In allen drei Geschichten bewegen wir uns im Faktischen und im Fiktiven zugleich. Es gibt Bilder, die existieren eben nicht als Fotografien, und die Zeichnung ist in der Lage, das darzustellen. Anhand der Dokumente, die durch die verschiedenen Untersuchungsausschüsse existieren, und aus anderen Zeugnissen können wir etwas generieren, was keine Fotografie bislang festhalten konnte und was im Prozess fehlt. Diese Beweislast, die eigentlich in der Fotografie liegen müsste.

Paula: Die Zeichnung kann verschiedene Ebenen, Dokumentarisches und Fiktives, amalgamieren. Dieses Bild zum Beispiel: Es ist eine Zeichnung, die auf einem Foto basiert. Man erkennt: Das ist das Bundesamt für Verfassungsschutz. Und dann diese grafische Sprache kontrastiert mit diesem in der Realität verorteten Bild. Ich glaube, die eigentliche Stärke von Zeichnungen liegt genau in dieser Synthese. Meine Arbeit als Zeichnerin ist es, Vorstellungen zu konkretisieren. Man fragt sich: Wovon spricht man da eigentlich visuell? Wie schaut so etwas aus? Wie sehen diese Büros im Verfassungsschutz aus? Natürlich gibt es davon keine Bilder. Man könnte das total alltäglich zeichnen, ganz realistisch, so dass es ganz greifbar wäre. Natürlich schließen sich da Fragen an: War die Entscheidung, dieses leicht surreale Moment einzuführen, eigentlich politisch richtig? Jetzt ist es, wie es ist. Es gibt so viele Möglichkeiten, und das wird einem immer dann klar, wenn man von der Skizze in die Konkretion geht und sich fragt: Wie mache ich das? Was für ein Bild will ich eigentlich erzeugen? Das erste Kapitel über die NSU-Unterstützerin Susann Eminger erzählen wir auf formaler Ebene durch einen Perspektivwechsel, nämlich aus der Perspektive einer ihrer Arbeitgeberinnen, die blind ist. Die ausschlaggebende visuelle Entscheidung war, in einem Teil dieses Kapitels ohne Bilder auszukommen und sich auf die Geräusche und die Sprache zu beschränken. Als im Auto Rechtsrock aus dem Radio dröhnt, visualisieren wir den Liedtext mit einer Fraktur-Schrift.

Anne: Wir waren auch in Zwickau, sind die Frühlingsstraße entlanggelaufen. Wir brauchten diesen räumlichen Eindruck. Das Haus, in dem das Trio über viele Jahre wohnte, wurde abgerissen. Dort ist heute eine Grünfläche, auf der drei große Koniferen wachsen. Die Bäume sind unschuldig, aber warum müssen es gerade drei sein? Wer hat diese Bäume da hingepflanzt? Die Stadt Zwickau hadert bis heute mit dieser Fläche und auch mit ihrer Verantwortung. Damit das Image der Stadt nicht beschmutzt wird, schweigt man lieber über den NSU. Das Schweigen ist ein Problem – nicht nur in Zwickau. In dem ganzen NSU-Prozess wird zu viel geschwiegen. Für unsere Geschichte brauchten wir eine Darstellungsform für dieses Schweigen. Ich hatte als junge Autorin mal ein Stück über einen blinden Mann fürs Radio gemacht. Ich bin mit ihm durch die Stadt gelaufen und er hat mir erzählt, was er hört, wie seine Wahrnehmung funktioniert. Mit diesem Wissen habe ich dann auch diese Geschichte geschrieben. Und Paula hat sich für die wunderbaren Visualisierungen viel mit Onomatopoesie beschäftigt. Es wird niemals gesagt, dass diese Frau blind ist. Das ist ein Moment der Irritation und der steht auch für diese ganze unaufgearbeitete Situation.

Paula: Diese Geschichte ist sehr akribisch recherchiert. Wir haben alles Mögliche gelesen und angeschaut, Videos, Fotografien usw. Das ist das Haus in der Frühlingsstraße. Und das sind die Perspektiven aus den Überwachungskameras: Das NSU-Trio hatte tatsächlich vier selbstinstallierte Überwachungskameras in ihrer Wohnung. Deswegen können wir jetzt mit diesem Material arbeiten. Ich habe es im Internet gefunden, als ich gerade angefangen habe, das Storyboard zu konstruieren.

Anne: Die Leute mussten immer ihre Schuhe ausziehen.

Paula: Hier ist die Frühlingsstraße von oben zu sehen. Das Bild habe ich mithilfe von Google Earth konstruiert. Es gibt viel Bildmaterial auf rechten Blogs, zum Beispiel NSU-Leaks: Da findet man Sachen, wie aus dem Helikopter gemachte Aufnahmen aus der Frühlingsstraße. Auch einige Fotos von Susann Eminger, die ich verwendet habe, sind von denen.

Anne: Von der Verwaltungsbeamten in der zweiten Geschichte, bei der es um die Vernichtung von sieben V-Mann-Akten aus Thüringen, unter anderem um die berüchtigte 7. Akte des Top-V-Manns Tarif geht, haben wir beide unabhängig voneinander in einem Zeitungsartikel gelesen. Sie hat die Aktenvernichtung zuerst verweigert und es am Ende doch gemacht. Der Prozess der Aktenvernichtung wurde dann recht umfangreich in den Protokollen des NSU-Bundestagsuntersuchungsausschusses wiedergegeben. Was wir über sie wissen, wissen wir daraus. Diese Frau hat vor dem Sonderermittler vom Bundesamt für Verfassungsschutz  Aussagen gemacht, die dokumentiert sind. Inwieweit die belastbar sind, weiß ich auch nicht. Ich kann immer nur mit dem arbeiten, was existiert. Daraus habe ich sozusagen diese Person gebaut. Es ist recht viel zitiert, ich wollte diese Sprache übernehmen. Manche Sachen wirken fiktiv, sind es aber nicht, zum Beispiel die Decknamen der sieben V-Männer, deren Akten vernichtet wurden: Tusche, Treppe, Tobago, Tonfarbe, Tacho, Tinte. Es geht in dieser Geschichte um den Vorgang des vorsätzlichen Vernichtens, um das Leugnen, um das Lügen. In einer Szene formen die Wolken den Satz „Lothar Lingen lügt“. Es ist ein Zitat aus Donald Duck, wo immer Flugzeuge mit einem Kondensstreifen in Schriftform vorbeifliegen. Lothar Lingen war der Referatsleiter in diesem Amt, der diese Aktenschredderei im November 2006 kurz nach Auffliegen des NSU-Trios veranlasst hatte. Und auch noch bis 2012 in seiner Position geblieben ist. Lothar Lingen lügt: Die Alliteration lag auf der Zunge. Alle wissen es, aber man findet es nirgendwo geschrieben.

Paula: Und es geht auch um den Umgang mit der Schuld, darum, was für wen relevant ist.

Anne: In unserer Geschichte wird am Ende die bestraft, die in der Hierarchie ganz unten ist, also die Ausführende, die eigentlich richtig gehandelt hat bzw. richtig handeln wollte, während die Chefs sich wieder erfolgreich auf ihre alten Posten zurück geklagt haben. Die kriegen Disziplinarverfahren, aber sie werden eigentlich nicht für ihr Versagen bestraft. Die Verwaltungsspitze bleibt ungeschont. Das ist der eigentliche Skandal: Es gibt keinen Willen zur Veränderung. Der Staat kann so weiter machen, die Führungskräfte fühlen sich bestätigt.

Paula: Was die Geschichte auch zeigt ist, dass diese Frau null Empathie für die eigentlichen Opfer zeigt, sondern nur sich selbst als Opfer sieht. Das ist unerträglich. Man kann sich natürlich ein Stück weit damit identifizieren, dass es für sie schlimm war, ihren Job zu verlieren. Aber sie hat nichts übrig für die Personen, die ums Leben gekommen sind und schafft so, das einfach zu relegieren, in diesen Bereich der Akten und des Schriftlichen. Eine wichtige Situation in der Geschichte ist für mich diese: Die Verwaltungsbeamte unterhält sich mit ihrem Chef darüber, was eigentlich in dieser Akte steht. Und er sagt: Möglicherweise der Beweis dafür, dass das NSU-Trio zu einem sehr frühen Zeitpunkt hätte festgenommen werden können – das ist ja die gängige Spekulation. Ihr ist das egal, es geht ihr nur um den verlorenen Job.

Anne: Im dritten Kapitel geht es dann um die Perspektive einer Angehörigen, Gamze Kubaşık, der Tochter von Mehmet Kubaşık. Er ist das achte Mordopfer des NSU. Er wurde am 4. April 2006 erschossen. Die Geschichte basiert vor allem auf einem Text, den die Tochter selbst geschrieben hat. Er erschien in dem Buch „Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet“, das Barbara John, die Ombudsfrau für die Opferfamilien des NSU, herausgegeben hat. Barbara John hat uns bei diesem dritten Kapitel übrigens sehr unterstützt.

Paula: Der dritten Geschichte fühle ich mich viel näher. Ich habe mich schon die ganze Zeit darauf gefreut, das zu zeichnen, auch wenn es natürlich eine andere Schwierigkeit mit sich bringt, jemanden zu zeichnen, die das dann sehen wird und sich natürlich auch visuell damit beschäftigt.

Anne: Für mich war diese dritte Geschichte schwierig. Dazu zu recherchieren, hat mich emotional sehr angegriffen. Der Prozess in München ist absolut desillusionierend. Wir erfahren da etwas, was ein hochgradiges Misstrauen gegenüber dem Staat erzeugt. Es gibt einen Vertrauensverlust, der massiv ist. Man merkt an jeder Stelle, dass der Richter überhaupt kein Interesse hat, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Temme, dieser ehemalige Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, wird einfach mit seiner Lüge entlassen. Der hat den Mord von Halit Yozgat nicht gehört, nicht gesehen und nicht gerochen, obwohl er in diesem Internetcafé war. Diese offensichtliche Lüge wird einfach akzeptiert und dann die Akten für 120 Jahre weggesperrt. 120 Jahre, das ist unglaublich.