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Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Und wie es seine Aura zurückbekam 09/2020

Was kann Fotografie heute noch sein? So viel steht fest: Sie ist zur immersiven Alltagspraxis geworden und tief in die ökonomischen Strukturen der Welt eingelassen. Ohne fotografische Bilder ist kaum noch etwas zu denken. Doch auch das steht fest: Die Beziehung zwischen der Realität und der Fotografie ist so prekär wie nie zuvor. Sylvia Henrich, Claudia Kugler und Stefanie Seufert machen sich diese prekäre Beziehung zu eigen. Sie führen das Sehen vor und manchmal auch hinters Licht. Was ihre Bilder zeigen, ist nicht immer klar. Noch nicht einmal, dass es Bilder sind, zumal fotografische. Und überhaupt: Was können fotografische Bilder heute noch sein? Und was passiert, wenn die Bilder Henrichs, Kuglers und Seuferts in eine gemeinsame Erzählung gebracht werden? Zumindest die Antwort auf die letzte Frage war für mich schnell klar: Hier entsteht eine neue Sinnlichkeit des Fotografischen, eine Hommage an lichtempfindliches Material genauso wie an das Pixel, an alle möglichen technisch reproduzierenden Verfahren, wie den Kopierer, den Scanner, den Drucker – nicht weniger also als eine Hommage an „das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, und vielleicht hätte Walter Benjamin diesen Zusatz erlaubt: „daran, wie es seine Aura zurückbekam“. Selbst Bilder, die sich nicht reproduzieren lassen, sich aber als Fotografie behaupten, sind in dieser Erzählung zu finden, und auch solche, die sich kaum als Fotografie behaupten lassen, die aber reproduzierbar sind. Was ist hier noch Fotografie und was nicht mehr?

Im Werk Sylvia Henrichs treffen so unterschiedliche Techniken wie Solarisation, Fotogramm, Kopie, Scan und Screenshot aufeinander. Im Ausstellungsraum bleiben Bilder und Bildfolgen wie Momentaufnahmen aus einem reflexiven Prozess zurück. Darin vermittelt sich stets der Eindruck, der Prozess liefe gleich fort, die Arbeit sei ongoing: Sicher ist die Künstlerin im Studio und arbeitet schon weiter an dieser Serie. Zum Beispiel an „Opposites“ (2020), für die sie Zwiebäcke, auf denen man Emojis zu erkennen glaubt, auf einem Scanner in immer neuen Arrangements ablichtet. Die Neonröhren an der Decke hinterlassen grüne Spuren im Bild, muten wie Fahnenstangen an, an denen die Zwiebäcke flattern – Humor spielt in Henrichs Werk immer wieder eine Rolle. Auch für „upside down“ (2020) hat sie mit einem Scanner gearbeitet. Hier markieren die Hände der Künstlerin einen Rahmen und ein großer gelber Punkt tilgt die Bildinformation zugunsten einer gelben Fläche: so ruft sie Assoziationen zu den Arbeiten John Baldessaris auf und zur Werbewirkung grafischer Elemente, die oft in Anzeigen und auf Plakaten in Fotografien eingelassen sind. Für „RGB“ (2020) hat Henrich im Bildbearbeitungsprogramm Photoshop Farben ausgewählt und am Bildschirm abfotografiert, wobei sich in die monochrome Fläche Texturen und Verläufe eingeschrieben haben.

Seit einigen Jahren beschäftigt sich Henrich mit dem Potenzial des algorithmischen Zufalls und macht ein Spannungsfeld auf zwischen diesem und gängigen Vorstellungen zu künstlerischer Fotografie. Auf „sketch for curtain“ (2020) sind vertikal die Worte einer Werbekarte für eine Ausstellung von Camera Austria zu lesen, verzerrt, wie in künstliche Falten gelegt. Vorhang auf: „What Was Documentary Is Now Something Else“. Die Ausstellung, deren Titel Henrich hier präsentiert, befasste sich 2015 mit der Krise des Dokumentarischen und dem „Misstrauen, das den fotografischen Bildern entgegengebracht wird, angesichts der Skepsis gegenüber dem Sichtbaren und seinen Möglichkeiten, etwas ‚Wirkliches‘ zu zeigen“. Durch Hin-und-Her-Bewegen dieser Karte von Hand auf dem Scanner – „wie ein DJ beim Scratchen“, sagt sie – lässt Henrich die Worte förmlich tanzen und im Echoraum dieses Diskurses verhallen.

Stefanie Seufert macht die Geste der Berührung selbst zum Motiv: „Touch No. 5“ (2019), ein Fotogramm, zeigt eine als Schweif oder Pinselschwung lesbare, dreidimensional anmutende Form. Sie entstand aus einer schnell ausgeführten Geste des Fingers, eine Bewegung wie beim Scrollen auf dem Touchscreen, wenn man etwa Bildfolgen durchblättert. Unter körperlichem Einsatz in der Dunkelkammer ist auch die Serie „expired“ (2020) entstanden. Mehrere Fotogramme zeigen unterschiedliche Spiralen, die Seufert per LED-Taschenlampe auf abgelaufenes Fotopapier gezeichnet und so zufällig auch reizvolle Farbeffekte erzielt hat. Hier, im Ausstellungsraum, in dem sich alles um die Fotografie dreht, liegt plötzlich ein Referent, also das, was die Fotografie eigentlich zeigen soll, am Boden – und wird selbst zum Bildträger. Die Bomberjacke aus der Serie „Our Items“ (2020) ist ein Kultkleidungsstück ursprünglich für US-amerikanische Kampfflugzeugbesatzungen entwickelt und ein immer wieder neu interpretiertes Männermodeaccessoire. Seufert hat die (gefundene) Jacke beschwert von einem großen Stein dem Sonnenlicht überlassen, das durch Ausbleichen Spuren auf der Jacke hinterlassen hat.

Dieser Schritt hinaus ins direkte Sonnenlicht ist bemerkenswert, betrachtet man Seuferts langjährige künstlerische Praxis im Studio. Wie fruchtbar diese neue Möglichkeit ist, zeigt eindrücklich die Serie „Sunny Grey, long term records“ (seit 2019). Dafür hat sie schwarze Baumwollstoffbahnen beschwert durch große Steine mehrere Monate im kargen sizilianischen Hinterland und in Brandenburg der Sonne ausgesetzt. Auf dem allmählich ausbleichenden Schwarz haben sich in erstaunlich fotografischer Anmutung Schattenwanderungen eingezeichnet, je nach Himmelsrichtung mehr oder weniger scharf und sich gegenseitig überlagernd. Selbst die bei einem Feldbrand teils zerstörte Stoffbahn ist Teil der Serie. Durch eine andere ist eine Feldpflanze gewachsen und in getrockneter Form zugegen. Die Künstlerin hat ein eindrückliches Hybrid aus Land Art und Fotografie geschaffen, wobei sie die Land Art subvertiert, indem sie sie zum Bild werden lässt, dass sie mit in den Ausstellungsraum nimmt, und die Fotografie subvertiert, denn umgekehrt zum fotografischen Verfahren, bei dem Licht eine Schwärzung verursacht, zerfällt hier das Pigment durch UV-Licht. Und natürlich entsteht ein nicht reproduzierbares Original, aber das war auch beim ersten kommerziellen fotografischen Verfahren der Fall.

Zwischen dieser Arbeit und jenen Kuglers, die mit 3D-Programmen am Computer entstehen, macht sich der weite Möglichkeitsraum dessen auf, was Fotografie sein kann und was sie nicht sein muss. In der Ausstellung in einen Dialog gebracht, wirken sie wie zwei weit auseinanderliegende Pole, die diesen Raum markieren. Trotz aller Unterschiedlichkeit verbindet diese Arbeiten doch jene Sinnlichkeit, die sich beim Betrachten einstellt. Steht man einer der vier bis acht Quadratmeter großen hochformatigen Stoffbahnen aus „Sunny Grey, long term records“ gegenüber, stellt sich ein überwältigendes sinnliches Gefühl ein: Der Wind und die Sonne sind förmlich spürbar. Und auch, wenn man Claudia Kuglers glatte Oberflächen betrachtet, ist das ein sinnliches Abtasten mit den Augen, etwa des übergroßen, am Computer generierten Mundes. Er stammt aus einer früheren Serie namens „Bill“, in deren Mittelpunkt noch das gesamte Gesicht einer männlich gelesenen Person stand. Mund, Nase und Zunge hat Kugler als eigene Sujets aus diesem Gesicht ausgekoppelt, in dieser Ausstellung bleiben lediglich Variationen des Mundes zurück, tapeziert an die Vorder- und Rückseite einer Wand im Raum. Das Fotografische an dieser Arbeit ist nicht mehr die Art ihrer Herstellung, aber immerhin das Imitieren eines Bezuges zu einem in diesem Falle fiktiven Referenten. Fotografien dienen Claudia Kugler, die stets am Computer arbeitet, bestenfalls als Vorlage oder etwa dazu, eine bestimmte Oberflächenstruktur in eine Arbeit zu integrieren. Durch das künstlerische Experiment konterkariert Claudia Kugler die Technologien, mit denen sie arbeitet, bildgenerierende Software, die in der Regel für kommerzielle Zwecke eingesetzt wird und die Fotografie nicht selten ersetzt. Hier treffen sich auch die Praxen Kuglers und Henrichs: im umstürzlerischen Umgang mit technischen Verfahren.

Analoge und digitale Bildtechnologien sind seit jeher vor allem von Männern und in patriarchal geprägten Umfeldern gemacht. So lassen sich die Experimente und Entfremdungen durch die drei Frauen auch als empowernde Strategien lesen. Stefanie Seufert zeigt mit „Touch No. 5“ ganz direkt auf den überholten männlichen Geniekult, wenn ihr Finger in einer simplen und frechen Geste einen Pinselstrich simuliert. Henrichs „RGB“ lässt an den als ein solches Genie gehandelten Maler Mark Rothko denken. Und Kuglers „Blase“ (2019/20) fiel mir auch gleich als Symbol weiblicher Kraft auf, kann man sie doch durchaus als Fruchtblase sehen und somit auch als bildgewordene Antithese zu Gustave Courbets Ölgemälde „L’origin du monde“ (1866), auf dem lediglich die primären Geschlechtsmerkmale der Frau aus Sicht des Mannes als Symbol des Lebens zur Geltung gebracht werden.

Claudia Kuglers Folienschnitt „scroll“ (2017) lässt sich, wenn man den Titel kennt, als Spur der Arbeit am Computer lesen. Sonst könnte man bei den roten Streifen etwa auch an blutige Kratzer in menschlicher Haut denken. Ein Bezug zur Realität ist hier direkt gegeben, entstammt die Form doch der tatsächlich ausgeführten Geste Kuglers: Es sind die Spuren ihrer Finger auf dem mit taktilem Sensor versehenen Touchpad. Dieser Bezug zur Realität ist gleichermaßen bedeutend, wenn man im Feld der Fotografie arbeitet oder argumentiert, ist er doch immerhin ihr spezifischer Wesenskern. Doch was, wenn die Realität, auf die sich die Fotografie bezieht, selbst Gewissheiten einbüßt, etwa, weil sie durch ökonomisierte Werbebildsprachen überschwemmt wird? Die Künstler*innen laden dazu ein, ihnen „into the wild“ [ins Wilde] zu folgen. Vielleicht ist dieses „Wilde“ jene Sinnlichkeit, die Henrich, Kugler und Seufert den Bildoberflächen unserer Alltagswelt entgegensetzen. Die Frage danach, was Fotografie heute noch sein kann, ist in dieser Welt auch eine politische; sich im Feld der Antworten darauf zu verdingen, ein wichtiger Auftrag. Und es ist gleichermaßen beruhigend wie beunruhigend, dass längst nicht alle gefunden sind.

Into the Wild / EMOP Berlin

Claudia Kugler, Ausstellungen zuletzt im Haus am Lützowplatz Berlin, Reisebürogalerie Diko Reisen/ Nagel Draxler Köln, Galerie Sima Nürnberg, Galerie Natalia Hug Köln und Galerie Max Mayer Düsseldorf.

Stefanie Seufert, Ausstellungen 2019/20 in: Berlinische Galerie; DZ Bank Frankfurt; Kunstbibliothek Berlin; NRW-Forum Düsseldorf; Kunsthalle Darmstadt; Laura Mars Gallery, Berlin; CPAP Havanna; Fotogalerie Wien.

Sylvia Henrich, Ausstellungen u.a. im S.M.A.K. Gent, Camera Austria Graz, Brno House of Arts, Kunstverein Stuttgart, MARTA Herford und zuletzt im ZKM Karlsruhe und Fundaziun NAIRS, Scuol.