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Bilder mit Beigeschmack 03/2021, TAZ

Die Künstler, die sich 1905 in Dresden zur „Brücke“ zusammenschlossen, ließen die akademische Tradition hinter sich und suchten das ursprüngliche Leben. Sie fanden es in Objekten aus Afrika oder Ozeanien, denen sie in den ethnografischen Sammlungen deutscher Museen begegneten und von denen sie sich zur revolutionären Formsprache des Expressionismus inspirieren ließen. So lautet das gängige kunsthistorische Narrativ. Doch es gibt noch mehr zu erzählen.

Dorthe Aagesen, Kuratorin der Dänischen Nationalgalerie in Kopenhagen, und Beatrice von Bormann, Kuratorin am Stedelijk Museum in Amsterdam, haben ein Projekt angestoßen, das einen genaueren Blick auf die zur Blütezeit des deutschen Kolonialreichs entstandene Kunst wirft. Dabei konzentrieren sie sich auf Ernst Ludwig Kirchner und Emil Nolde. Nach den Stationen in Kopenhagen, wo die Ausstellung Mitte Februar eröffnen sollte, vorerst aber wegen des Lockdowns geschlossen bleibt, und in Amsterdam wandert sie im November ins Brücke-Museum. Das Berliner Haus erweitert sie dann um Reflexionen zu Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff.

„Bisher wurde das Thema Aufarbeitung in der Kunstgeschichte vom Nationalsozialismus dominiert, der Kolonialismus hingegen vollkommen vernachlässigt. Das gilt gerade für die Expressionismusforschung, in der selbst der Nationalsozialismus lange Zeit nur rudimentär behandelt wurde,“ sagt die Direktorin des Brücke-Museums Lisa Marei Schmidt. Im Jahr 2019 zeigte sie eine Ausstellung, die kritisch den Alltag und das Selbstverständnis Erich Heckels, Schmidt-Rottluffs, Pechsteins und Kirchners im Nationalsozialismus beleuchtete. Die Geschichte des NSDAP-Parteimitglieds Nolde wurde parallel im Hamburger Bahnhof aufgerollt. Nun also: Kolonialismus.

Dass man die Brücke-Künstler regelmäßig vor den randvoll gefüllten Vitrinen der Museen in Dresden und Berlin fand, ist hinreichend belegt – allein in zahlreichen Skizzen, Gemälden und Druckgrafiken, in denen die Objekte, von denen man heute weiß, dass es sich um Raubkunst handelt, einen Auftritt haben. Seltener wurde bisher ausgesprochen, dass die Künstler diese mit einem „karikaturistischen oder rassischen Beigeschmack“ darstellten, wie die Kuratorinnen es formulieren. Als Beispiel führen sie Noldes Interpretation einer Benin-Bronze an, die er im damaligen Museum für Völkerkunde in Berlin gesehen hatte. Auf dem Gemälde von 1912, betitelt als „Holzfigur“, verpasste er ihr abweichend vom Original breite rote Lippen und betont runde Augen. Herkunft oder kulturelle Funktion der Figur spielten für ihn keine Rolle. Freilich lässt sich argumentieren, Noldes Perspektive und die der anderen Brücke-Künstler entsprächen einem Zeitgeist, der die westliche Kultur überlegen wähnte. Doch zeigt man ihre Bilder heute, verlangen sie ein Nachdenken über die gewaltvollen kolonialen Zusammenhänge, in denen sie entstanden sind.

Zusammen mit seiner Frau Ada begleitete Nolde 1913/14 die „Medizinisch-demographische Deutsch-Neuguinea-Expedition“ nach Papua-Neuguinea. Dort fertigte er Aquarellporträts von Einwohner*innen, während diese zur anthropologischen Erfassung vermessen und untersucht wurden. Er kam mit einer Reihe, an der deutschen Kolonialverwaltung vorbei illegal erworbener Objekte wieder, darunter auch die damals bei europäischen Sammler*innen und Museen beliebten zeremoniellen Uli- und Malagan-Figuren.

Neben Nolde legte auch Schmidt-Rottluff eine eigene Ethnografika-Sammlung an. Bisher lagerten die 100 Objekte zusammen mit Kunstwerken im Depot des Brücke-Museums. Im Berliner Teil der Ausstellung werden sie erstmals zu sehen sein. Woher Schmidt-Rottluff sie hatte, ist weitgehend unbekannt. Darunter seien zum Beispiel Trommeln, Skulpturen und Kämme, sagt Schmidt. „Wir wissen, dass er schon ab den 1910er Jahren sammelte, aber einen Teil erst nach dem Zweiten Weltkrieg erwarb. Wir konnten etwa 20 Herkunftsregionen bestimmen. Bei einigen Objekten aber ist noch nicht einmal klar, was es überhaupt ist.“

In den kommenden Monaten will das Brücke-Museum ein Expert*innen-Netzwerk einberufen. Es soll die Provenienz der Objekte klären und sie kontextualisieren. Um Genaueres über einige Objekte zu erfahren, die aus Kamerun stammen, steht das Brücke-Museum schon in Kontakt mit einem kamerunisch-deutschen Forschungsprojekt: Unter der Leitung von Bénédicte Savoy an der TU Berlin und Albert Gouaffo von der Université de Dschang in West-Kamerun untersucht es Kulturgutverlagerungen aus der ehemaligen Kolonie nach Deutschland.

Einen breiteren Kontext zum Ausstellungsteil über Kirchner und Nolde liefert eine Publikation, die demnächst erscheint. Der nigerianische Künstler und Experte für beninische Hofkunst Enotie Paul Ogbebor etwa stellt darin das von ihm mit entworfene und in einer internationalen Kooperation entstehende Museum vor, das für die geforderte Rückkehr der Benin-Bronzen vorgesehen ist. Der Streit um deren Restitution dauert an, mehrere Hundert sind nach wie vor im Besitz des Ethnologischen Museums, das gerade ins Humboldt Forum gezogen ist. Fanny Wonu Veys, Kuratorin für Ozeanien am niederländischen Nationaal Museum van Wereldculturen, legt die Geschichte und rituelle Funktion der Uli-Figur aus Noldes Sammlung dar. Die Sozial- und Kulturanthropologin Hilke Thode-Arora erläutert, wie Menschen aus den Kolonien in den populären Völkerschauen vorgeführt wurden, die Kirchner und andere Brücke-Künstler regelmäßig besuchten. Mit diesem und anderen Texten problematisiert das Projekt den rassifizierenden Blick der Künstler auf einige ihrer Modelle.

Schwarze Menschen gab es auch im direkten Umfeld der Brücke-Künstler, zum Beispiel die „Schlafende Milli“, eine Frau, die auf Fotografien aus Kirchners Atelier auftaucht und die er 1911 unter diesem Titel als liegenden Akt malte. Das Bild veranlasste die Soziologin, Künstlerin und Aktivistin Natasha A. Kelly zu ihrem Dokumentarfilm „Millis Erwachen“ von 2018, in dem acht Schwarze Frauen über ihre Zusammenarbeit mit deutschen Kunstinstitutionen sprechen und über ihre Position in einer weißen Mehrheitsgesellschaft, die nach wie vor von kolonialen Denkmustern geprägt ist. Die Expressionisten hätten nicht nur die Stereotypen über Menschen aus den Kolonien in ihre Werke einbezogen, merkt Kelly in ihrem Beitrag zur Publikation an, sondern umgekehrt mit ihren Werken auch die Rassismen und Exotismen der Kolonialzeit beeinflusst.

Lisa Marei Schmidt will auch zur Berliner Ausstellung zeitgenössische Künstler*innen einladen. Sie sollen sich mit den Objekten aus Schmidt-Rottluffs Sammlung auseinandersetzen. Und sie hat noch mehr vor: Sie will das Brücke-Museum dekolonisieren. Diskussionen mit Expert*innen, im Team und mit der Öffentlichkeit, sollen zu diskriminierungskritischen Perspektiven auf bisherige kuratorische Praktiken, Ausstellungstexte, die Online-Sammlung und Formen der Kollaboration beitragen, heißt es im Projektexposé. Der Senat hat die Finanzierung schon zugesagt. Stimmen, wie die Kellys, werden wichtig sein, um die dekoloniale Perspektive nicht nur für die Rückschau, sondern auch in der Gegenwart produktiv zu machen.