Textarchiv

Ishmael Houston-Jones über „Them” 08/2012, Tanz im August-Blog

Ich treffe den US-amerikanischen Tänzer und Choreografen Ishmael Housten-Jones einen Tag nach der deutschen Premiere von „Them“, fast 30 Jahre nach der ersten Aufführung des Stücks in New York.

SW: Ishmael, die New Yorker Tanzszene der 1980er Jahre fasziniert heute noch. Du warst Teil davon. Wie war das damals?

IHJ: Es war eine sehr fruchtbare Zeit in New York, nicht nur für Tanz, sondern für Kunst allgemein. In der bildenden Kunst, der Literatur und der Musik passierte viel, Punk und New Wave kamen auf, Graffiti wurde plötzlich in Galerien gezeigt, Hip-Hop war ganz groß. Im Tanz ging die Judson-Ära, die in den 1960er Jahren angefangen hatte, auf ihr Ende zu, der postmoderne Tanz ging in den Kanon ein, die junge Szene suchte nach neuen Wegen. Genres wie Breakdancing und Urban Dancing kamen auf, Tanz und Clubkultur rückten näher zusammen. Es war auch die Zeit der sexuellen Befreiung, nicht nur in der schwulen Szene. Man hatte einfach sehr viel Sex, auf ganz unterschiedliche Weisen. Ich war damals auch für ein paar Wochen in Berlin, denn ich kannte die Leute, die hier die Tanzfabrik gegründet hatten. Die Stimmung hier war fast genauso wie in New York.

SW: Um die sexuelle Befreiung Homosexueller geht es ja auch in „Them“. Wie waren die Reaktionen bei der Erstaufführung 1985?

IHJ: Die Leute waren total abgeschreckt. Auch die Presse reagierte sehr negativ. Die Aids-Krise hatte gerade erst begonnen und die schwule Szene fühlte sich angegriffen, stigmatisiert. Das Stück ist ja auch nicht gerade sehr hoffnungsvoll – die auf dem Boden herumliegenden Körper, die tote Ziege …

SW: Wie reagierte das Publikum auf das tote Tier?

IHJ: Viele Leute verließen bei dieser Szene den Saal.

SW: Bei der Aufführung im HAU 2 gingen ja auch einige Zuschauer raus.

IHJ:Ja, aber damals waren es noch viel mehr

SW: Ich fand diese Szene sehr gut, für mich machte sie die Verletzlichkeit der jungen, mit HIV infizierten Männer deutlich.

IHJ: Der Tierkörper steht für vieles. Eigentlich kam er aus einem Traum, den ein Freund von mir hatte. Die Aids-Krise war in seinem Leben sehr präsent. Eines nachts träumte er, er läge mit seinem eigenen toten Körper im Bett, werfe ihn raus, doch der Körper käme immer wieder zurück. Aber auch die christliche Mythologie spielt eine Rolle, ein Lamm ist ja zum Beispiel ein Symbol für den Körper von Jesus Christus. Der Tänzer versucht in seinem Solo mit dem Tier, in den Körper reinzukommen und stößt ihn gleichzeitig immer wieder weg – was ja auch ein essentielles Motiv der Choreografie ist.

SW: Was habt ihr nach der Show mit dem Tier gemacht?

IHJ: Es ist noch hier, im Kühlschrank. Wir brauchen es ja für die Aufführung heute Abend noch mal. Was danach damit passiert, weiß ich noch gar nicht. Für die Wiederaufführung vor zwei Jahren in New York im Rahmen einer Retrospektive brauchten wir vier Ziegen. Der Tänzer, der sein Solo mit den toten Tieren hatte, hat sie damals mit einer kleinen Zeremonie beerdigt.

SW: Du hattest vorhin vom Austausch zwischen Tanz und bildendender Kunst gesprochen. Integrierst Du bildende Kunst in Deine Praxis als Tänzer oder Choreograf?

IHJ: Sehr intensiv. In „Them“ stecken viele Elemente aus der bildenden Kunst. Auch bei der Rekonstruktion des Stückes für die Wiederaufführung habe ich Werke von bildenden Künstlern genutzt. Ich habe den Tänzern zum Beispiel Collagen von Gilbert und George gezeigt. Für die Wrestling-Sequenzen haben wir uns Bildfolgen von Edweard Muybridge angeschaut. Auch Nan Goldins Fotografien waren eine wichtige Inspirationsquelle.

SW: Nan Goldin hat die Szene in den 1980er Jahren sehr intim dokumentiert, mit allem was dazugehörte: Sex, Aids, Travestie. Das hat wahrscheinlich dabei geholfen, den jungen Tänzern die Stimmung von damals näher zu bringen. Zwei von ihnen sind jünger als das Stück.

IHJ: Ja, genau. Ich habe ihnen Bilder aus der Serie „Ballad of Sexual Dependency“ gezeigt. Das hat sie für diese Zeit sehr sensibilisiert.

SW: Die Zahl der AIDS-Infizierten steigt seit einigen Jahren auch in Europa und den USA wieder. Aber Aids wird für die jungen Tänzer sicher weniger ein Thema sein als damals, oder?

IHJ: Beim Casting haben wir gefragt, ob Aids für sie eine Rolle spielt. Viele sagten erstmal nein, wir bohrten weiter und dann fielen ihnen doch Menschen in ihrer Umgebung ein, ein an Aids gestorbener Tanzlehrer, ein HIV-positiver Cousin, ein Liebhaber … viele haben sich auch schon mal testen lassen. Heute ist Aids ja auch längst nicht mehr nur Thema in der schwulen Szene. Viele Heterosexuelle, auch Frauen, sind heute infiziert.

SW: Beim Gespräch nach dem Stück sagte einer der jungen Tänzer, er identifiziere sich gar nicht mit dem Schwulsein, sehe sich vielmehr als queer.

IHJ: Sexualität ist heute tatsächlich wesentlich vielfältiger und komplexer geworden. Ich unterrichte viel, also bekomme ich solche Veränderungen mit.

SW: In einem Artikel der New York Times habe ich gelesen, man habe damals wegen Deiner Hautfarbe bestimmte Erwartungen an Deine Kunst gehabt. Wie war das?

IHJ: Als Afroamerikaner wurde man gleich in die Alvin-Ailey-Tradition eingeordnet. Mit seiner Tanzkompanie, zu der fast nur Afroamerikaner gehörten, hatte er den Modern Dance mit etabliert. Ich habe dann 1982 ein Festival kuratiert und afroamerikanische Choreografen und Tänzer eingeladen, die fernab vom Mainstream des Modern Dance arbeiteten, so wie ich. Dieses Jahr war der dreißigste Jahrestag dieses Festivals, wir haben einige Performances von damals wieder aufgeführt, Talks und Vorträge organisiert, das ganze Thema rückblickend reflektiert. Gerade beschäftige ich mich auch viel mit zeitgenössischem Tanz aus Afrika, damals war mir gar nicht klar, dass das existiert. Ich finde zum Beispiel Nora Chipaumire sehr spannend, eine Künstlerin aus Zimbabwe.

SW: Arbeitest Du an einem neuen Projekt?

IHJ: Nicht an einem eigenen, aber an einem von Miguel Gutierrez. Es ist ein Gruppenstück für sechs Tänzer, ich bin einer davon. Die Premiere ist im September im Walker Art Center in Minneapolis, im Dezember dann in New York.

SW: Worum geht es in dem Stück?

IHJ: Keine Ahnung! (Lacht) Na gut, so viel: Niemand ist jünger als 33. Und es geht um das Verhältnis von Körper und Geist. Gutierrez hat sich dafür mit Neurowissenschaften auseinandergesetzt, auch mit Spiritismus. Um uns auf das Stück einzustimmen, waren wir mit einer dieser Firmen, die sich darauf spezialisiert haben, auf Geisterjagd.

Interview im Tanz im August-Blog