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Wim, Liv und Eis am Stiel 04/2013, Traffic

Andy Warhol hätte am neuesten Werk von Wim Wenders durchaus Gefallen gefunden. Ein Kommentar, kein Advertorial.

Als Regisseur Wim Wenders im April in Berlin sein neuestes Werk „Every Kiss Tells A Story“ vorstellte, liefen die Journalisten mit Eis am Stiel umher. Und das an einem der letzten kühlen Tage im gefühlt längsten Winter, den die Stadt je erlebt hat. Denn Wenders’ neuer Film ist inspiriert vom neuesten Produkt des deutschen Speiseeisherstellers Langnese. Inspiriert heißt in diesem Kontext natürlich vor allem finanziert. Und das Budget für die Markteinführung der limitierten Edition einer Produktserie namens „Magnum 5 Kisses“ schien hoch gewesen zu sein. Denn Wenders durfte Hollywoodstar Liv Tyler nach Berlin einfliegen lassen, um mit ihr im historischen Tanzlokal Clärchens Ballhaus an zwei Tagen einen Film zu drehen und mit ihr im White Trash eine Nacht lang zur Musik ihrer kalifornischen Lieblingsband The Growlers durchzutanzen. Sie habe schon immer mal mit Wenders arbeiten wollen, erzählte sie bei der Pressekonferenz. Und Wenders sei von ihr begeistert gewesen, seit er sie in Bernardo Bertoluccis Film „Gefühl und Verführung“ von 1996 gesehen habe. Berlin liebe sie ohnehin, gestand Tyler, hier passiere so viel und die Leute seien so toll gekleidet. Die Lokalpresse freute sich. Reporter der Berliner Zeitung erwischten die New Yorkerin sogar beim Rauchen, draußen in der Kälte, vor Clärchens Ballhaus in der Auguststraße.

Sehr scheint die Kälte Tyler nicht gestört zu haben. Beim Dreh aß sie nämlich Eis. Als sie es probiert habe, habe sie sogar für ein paar Sekunden die Augen schließen müssen, so lecker sei es gewesen, erzählte sie den Journalisten, denen es wohl nicht ganz so ging, denn sie hatten die Augen alle offen. Wim Wenders wirkte zwischen der Schmollmündigen und dem Eiscreme-Brimborium etwas blass. Beharrlich sprach er von seinem „Kurzfilm“ und nicht etwa von seinem „Werbefilm“, wie aber die Journalisten später schrieben. Wortklauberei. Künstlerisch gesehen kann man Wenders da nichts anlasten. Im Gegenteil. Andy Warhol zum Beispiel hätte an Wenders’ Schwarzweiß-Streifen richtig Gefallen gefunden. Marken wie Brillo, Burger King oder Coca Cola platzierte Warhol in seinen Werken ganz ohne finanzielle Zuwendungen. In den 60ern, als neue Kameras und Videotechnik auf den Markt kamen, hätte er die bildende Kunst am liebsten hingeschmissen, um mit Freunden in seiner New Yorker Factory nur noch experimentelle Filme zu machen. Eine hübsche Frau, ein Kuss, ein Marken-Eis-am-Stiel und alles schnell abgedreht: ganz im Warholschen Sinne. Tatsächlich drehte der Pop-Papst 1963 einen Film mit dem Titel „Kiss“. 50 Minuten lang küssen sich Paare in Großaufnahme, mal Mann und Frau, mal zwei Männer, mal leidenschaftlich, mal mechanisch.

Heute ist die zarte Verschmelzung von Kunst und Kommerz weiter ausgeprägt als Warhol es sich je hätte träumen lassen. Freilich, Wenders’ Kurzfilm, Werbefilm, viraler Spot oder wie auch immer man diese bewegten Bilder nennen will, ist narrativer, stilisierter, inszenierter als Warhols „Kiss“. Tyler wandelt durch das Tanzlokal und schwelgt, angeregt von einem Lippenstift-Kussmund, den sie an einem Spiegel findet, in Erinnerungen an vergangene Küsse. Es ist eben Kunst auf ihre Weise, „durchzogen von Karamellsauce, verfeinert mit Karamellstückchen und umhüllt von knackiger Milchschokolade“. (Diese Textpassage wurde aus der Produktbeschreibung der Sorte „First Kiss“ übernommen, die Tyler und Wenders in ihrem Film interpretieren, weitere Sorten sind „Loving Kiss“, „Passionate Kiss“, „Flirty Kiss“ und „Stolen Kiss“. Im Lauf des Jahres werden sie nach und nach auf den Markt geworfen, um die über 30 Sorten, die es laut Hersteller bisher im deutschen Handel gibt, zu ergänzen, und um die Storymaschine im Kopf des Konsumenten anzuwerfen. Und wer könnte da besser auf die Sprünge helfen als Wenders, der große Geschichtenerzähler.)

Nach Pressevorführung und Dinner im schicken Berliner Restaurant Pantry entschied sich das Gros der Journalisten dafür, „Magnum“, „Langnese“ oder „Magnum 5 Kisses“ in ihren Berichten nur am Rande oder gar nicht zu erwähnen, sondern sich auf die ersten Küsse zu konzentrieren, die Liv Tyler im zarten Alter von 13 oder 14 Jahren, sie wusste es nicht mehr so genau, und Wim Wenders mit 16 Jahren irgendwelchen Unbekannten gaben. Die virale Maschinerie lief wie geschmiert. Und wenn der Film nach der Premiere in Cannes am 17. Mai dann nicht nur in Kinos, sondern auch online läuft, werden bestimmt auch nur einige User, die sich mit der romantischen Annäherung von Kunst und Kommerz noch nicht so ganz angefreundet haben, stinkig. Wie der, der sich auf der Webseite des Magazins Vice im unabhängigen redaktionellen Bereich wähnte, sich einen Clip zu einem Projekt von Wim Wenders mit jungen Berliner Kreativen ansah und an Inhalt und Machart dann feststellte, dass es sich hier um irgendeine Art von Werbung des Sponsors Samsung handeln musste, dessen nagelneuen Tablet-Computer die Kreativen nutzten, um Berlin zu „recreaten“. Der User tippte daraufhin einen bissigen Kommentar mit dem Stinkefinger, wie er anmerkte, unter den Beitrag.

Zum Glück ist das hier eine Printausgabe, ein Medium, das keinen Shitstorm kennt. Sonst würde man vielleicht auch fuchsteufelswilde Kommentare ausspucken, weil wir hier immer wieder „Magnum“ und „Langnese“ und „Magnum 5 Kisses“ schreiben. Wir tun dies aus freien Stücken, ist doch super aufgegangen, die PR-Strategie, das muss man auch mal schreiben. Kunst darf auch Kunst sein, wenn sie in einen kommerziellen Rahmen eingebettet ist. Ein bisschen angekratzt kommt höchstens Wim Wenders aus der Sache raus, denn so cool wie Andy Warhols „Kiss“ ist seine Arbeit nicht geworden. Die zauberhafte Liv Tyler ist über jeden Peinlichkeitsverdacht erhaben.