Textarchiv

Weil ich nun mal hier lebe 03/2019, Camera Austria International

Es ist 1975, wir befinden uns in einem Münchner Wohnhaus. Želimir Žilnik hat die Kamera auf einem Zwischenabsatz im Treppenhaus aufgestellt. Nun gehen die Bewohner*innen nacheinander die Treppe hinunter, treten kurz vor die Kamera und stellen sich vor. Sie kommen aus Italien, Griechenland, der Türkei, Jugoslawien und anderen Ländern, mit denen die BRD seit 1955 Anwerbeabkommen abgeschlossen hat. Sie sollen eine Weile hier arbeiten und dann wieder gehen. Žilnik lässt die Gastarbeiter*innen für »Inventur – Metzstraße 11« wie für eine statistische Erfassung auftreten. Wir zählen. Und das Treppenhaus wird zum Transitraum, wie jener, der die BRD für sie sein soll.

Was München ist, könnte auch Frankfurt sein: In der Stadt am Main, wo der Film die von Susanne Pfeffer und Anna Sailer kuratierte Gruppenausstellung »Weil ich nun mal hier lebe« eröffnet, haben die Hälfte der Menschen Wurzeln in anderen Ländern, viele kamen einst als Gastarbeiter*innen. Die Ausstellungsfläche des Museums für Moderne Kunst im TaunusTurm, einem 170 Meter hohen Bürogebäude, liegt zwischen dem migrantisch geprägten, lange als sozialer Brennpunkt gemiedenen Bahnhofsviertel und dem Bankenviertel – zwischen rassistisch strukturiertem deutschen Mikroalltag auf der einen Seite und globalem Finanzkapitalismus auf der anderen, der solche Strukturen reproduziert und Menschen zu Zahlen geraten lässt.

Für die Absurdität numerischer Dokumentation wie sie Einwanderungsbehörden betreiben,  interessiert sich auch Harun Farocki, dessen Arbeit »Aufstellung« (2005) wenige Meter von der Žilniks entfernt projiziert ist. Mit schnell nacheinander montierten Details von aus Lehrbüchern und behördlichen Broschüren abgefilmten Grafiken zeichnet er eine Geschichte von »Gastarbeiter*innen«, »Spätaussiedler*innen«, »Flüchtlingen«, »Zonenflüchtlingen« und anderen Gruppen in Deutschland nach und zeigt, wie solche Erhebungen Ressentiments schüren und Feindbilder konstruieren. Die Grafiken abstrahieren Menschen etwa zu visuellen Stereotypen: Männer mit Vollbärten, Frauen mit Kopftuch oder Tschador.

Farocki spitzt zu, was in Medienregimen damals wie heute gängig ist: Man spricht über Immigrierte, gibt ihnen selbst aber keine Stimme, man macht Bilder von ihnen, lässt sie aber keine eigenen produzieren. Einen Kontrast dazu bilden die auf kleineren Bildschirmen im Raum verteilten »SPOTS« (2017). Die Gruppe Tribunal NSU-Komplex auflösen hat die Reihe von Kurzvideos initiiert, in der sich Engagierte und Angehörige in Reaktion auf die Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) formiert haben. Eine in Deutschland geborene Türkin erklärt bewegt, warum sie sich immer als »die Andere« gefühlt habe. In einem TV-Interview aus den 1990er-Jahren hält eine türkischstämmige Überlebende der rassistischen Brandanschläge in Mölln und Solingen in Großaufnahme ein Plädoyer für mehr Akzeptanz. Eine Zeile daraus gab der Ausstellung ihren Titel.

Vor dem Hintergrund neofaschistischer Tendenzen heute geben die Kuratorinnen Einblicke in die künstlerische Auseinandersetzung mit Rassismus in Deutschland seit den 1970er-Jahren. Die gezeigten Arbeiten erproben und kritisieren unterschiedliche dokumentarische Praxen und damit einhergehende Wahrheitspolitiken. Die unter anderem vom Tribunal NSU-Komplex auflösen beauftragte Arbeit »77sqm_9:26min« (2017) der Forschungsgruppe Forensic Architecture etwa belegt aufgrund gesammelter Daten und einer Nachinszenierung des Kasseler NSU-Mordes an Halit Yozgat die Falschaussage des darin verwickelten ehemaligen Verfassungsschutz-Mitarbeiters Andreas Temme. Diesem forensisch-wissenschaftlichen Ansatz begegnet bei Azin Feizabadi eine Fiktionalisierung von Erlebtem: Besucher*innen nehmen auf Kinosesseln Platz und folgen der Erzählung eines Protagonisten, der nach seiner Flucht mit Stationen in Frankreich, Österreich und Belgien in Dortmund landet und aus Erinnerungen eine eklektische Biografie zusammensetzt.

Mit dokumentarischem Interesse rekonstruierte Henrike Naumann zunächst die Interieurs von Wohnungen, die in der Nachwendezeit mit den neu verfügbaren Versandhausmöbelstücken ausgestattet wurden und in denen sich die rechtsradikalen Jugendkulturen Ostdeutschlands herausbildeten. In Frankfurt präsentiert sie in kühlem Neonlicht das türkisgrüne Interieur eines sächsischen Blumenladens. Die Referenzen von »14 Words« (2018) reichen vom NSU – das erste der neun migrantischen Opfer war ein Blumenhändler – bis zur US-amerikanischen Neonazigruppe The Order. Der Titel bezieht sich auf jene 14 Wörter, die Gründungsmitglied David Lane aus Hitlers Mein Kampf extrahierte: »We must secure the existence of our people and a future for white children.« Darauf, dass diese Zahl in rechtsextremen Kontexten als Code verwendet wird, wie im Bekennervideo des NSU, verweist Naumann in einer in das Interieur integrierten Videoarbeit, die untersucht, wie solche Vorstellungen symbolisch codiert, gestaltet und kommuniziert werden.

Erik van Lieshout nimmt die Betrachter*innen mit auf eine Reise, die er auf dem Fahrrad von Rotterdam nach Rostock gemacht und mit der Handykamera dokumentiert hat. In tristen Plattenbausiedlungen führt er distanzlos inszenierte Kneipentischgespräche, exponiert das Klischee des xenophoben Ostdeutschen, trifft Neonazis, die sich mit einem Brandanschlag auf eine Synagoge rühmen. Wie Naumanns Arbeit erscheint seine künstlerische Studie »Rotterdam – Rostock« (2006) soziologisch motiviert. Er führt sie aber konsequent subjektiv durch und lässt immer wieder Privates durchdringen, etwa wenn seine Freundin sich am Telefon von ihm trennt.

Wenn auch deutlich distanzierter, fragt Hito Steyerl in ihrer Serie »Normalität 1–X« (1999 – 2001) genau wie Erik van Lieshout, wie Rassismus und Antisemitismus wenige Jahrzehnte nach dem Holocaust in Deutschland und Österreich wieder »normal« werden konnten. Im Mittelpunkt der fünf essayistischen Videos stehen Anschläge auf jüdische Grabstätten in Berlin und Wien und weitere Kulminationspunkte rechter Gewalt, etwa der Tod des bei seiner Flucht vor einem Mob rechtsextremer Jugendlicher schwer verletzten algerischen Asylbewerbers Farid Guendoul im Jahr 1999. Steyerl erzählt, wie der zum Gedenken an ihn aufgestellte Stein immer wieder von Rechtsextremen beschädigt wird. Ein Jahr darauf nimmt sie die erste rechtspopulistische Regierungsbildung von FPÖ und ÖVP und die damals noch folgenden Sanktionen durch die EU in den Fokus und lässt Bilder aus Österreich in einen Dialog mit solchen von einer rechten Demonstration in Berlin treten.

Natasha A. Kelly porträtiert für ihren Film »Millis Erwachen« (2018), die vorletzte Arbeit des Parcours, mehrere afrikanische und afrodeutsche Frauen, die in Kunst und Kultur tätig sind und von ihren Erfahrungen mit strukturellem Rassismus in Deutschland berichten. Entlassen werden die Besucher*innen durch eine das gleiche Thema auf ganz andere Art beleuchtende Installation Emeka Ogbohs. Er hat den Geschmack in Deutschland lebender Afrikaner*innen erhoben und auf dieser Grundlage das Bier »Sufferhead Original (Frankfurt edition)« (2018) gebraut. Porträts zeigen schwarze Frauen in barocken europäischen Interieurs beim Genießen des Biers. Neben einer Installation mit den Flaschen und dem großen Schriftzug »Wer hat Angst vor Schwarz?« läuft ein Werbespot: In einem Biergarten nach bayerischem Vorbild serviert nicht wie sonst eine Klischee-Blondine das Gebräu, sondern eine schwarze Frau in Dirndl. Ein wenig unvermittelt wirkt diese Arbeit am Ende der Ausstellung, ist sie doch die einzige, die sich dem Thema satirisch nähert. Doch schließt sie den Kreis insofern, dass sie wie die Žilniks und Farockis Zweifel hegt an der Methode, dem Menschen als Statistik statt empathisch zu begegnen.