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Was, wenn Sprache brüchig wird? 01/2019, Springerin

Ungewohnt dunkel ist es in dem Stuttgarter White Cube. Im Raum verteilt sind mehrere, teils mit Vorhängen abgetrennte Installationen. Einige Leinwände hängen von der Decke, andere an Holzgestellen. Bildschirme und Lautsprecher sind an Bühnenelementen fixiert. Hier und da weist ein schwacher Lichtkegel an, dass es Titel und Texte zu lesen gibt. Besucher*innen nehmen auf Rollhockern Platz. Eine Leinwand leuchtet weiß auf, ein Countdown zählt eine Minute herunter, Film ab. Gleich danach wird an anderer Stelle der nächste eingezählt.

Imogen Stidworthys erste Solopräsentation in Deutschland ist mehr Vorführung als Ausstellung. Die 1963 geborene britische Videokünstlerin zeigt im Württembergischen Kunstverein Arbeiten aus den vergangenen 20 Jahren, nicht parallel, sondern nacheinander. In 100 Minuten untersucht sie, was es heißt, in der Welt zu sein. Dort also, wo Sprache und Diskurs über die symbolische Ordnung herrschen. Jacques Lacan bestimmte das Symbolische zusammen mit dem Imaginären (Bildhaften) und dem Realen (Ungreifbaren, Verdrängten) als jene Triade, die das subjektive Erfahren konstituiert. Im Mittelpunkt des von Iris Dressler und Hans D. Christ inszenierten Parcours steht die Frage: Was passiert, wenn Sprache brüchig wird oder gar ganz ausbleibt?

Ganz ohne Sprache verbrachte die Autistin Iris Johansson die ersten Jahre ihres Lebens. Erst als sie zehn war, habe sie erkannt, dass eine Person etwas sagen könne, das jemand anderes versteht, erzählt sie in „Iris (A Fragment)“ (2018). Ihr Vater half ihr beharrlich dabei, eine Verbindung zum sozialen Außen herzustellen. Fast täglich ging sie ins Kino und übte das Gesehene anschließend zuhause vor dem Spiegel. Heute arbeitet sie selbst als Therapeutin. Die Grenze zwischen Innen und Außen, die Johansson so eindrücklich durchlässig macht, greift Stidworthy in ihren Bildern auch metaphorisch auf, wenn sie Johansson zunächst durch eine Fensterscheibe filmt. Darin spiegelt sich das Meer, dessen Rauschen sich zu Johanssons Stimme gesellt und markiert, was außerhalb des Symbolischen bleibt.

Geräusche spielen auch in der von der Biennale von São Paulo beauftragten Installation „Balayer – A Map of Sweeping” (2014/18) eine tragende Rolle. Dafür reiste Stidworthy in die französische Gemeinde Monoblet, wo Jacques Lin und Gisèle Durand seit den späten 1960er Jahren mit zwei Autisten zusammenleben. Die Idee zu dieser experimentell-therapeutischen Gemeinschaft, in der anfangs mehrere sprechende Erwachsene mit nicht sprechenden, autistischen Kindern zusammenlebten, hatte der Sozialpsychologe Fernand Deligny. Stidworthy verknüpft eigene in Monoblet gemachte Aufnahmen mit Videobeobachtungen Lins aus früheren Jahren. Aus mehreren Lautsprechern dringen Geräusche, das eines Besens beim Kehren etwa oder das von Stahlwolle, die einer der beiden Autisten beim Spülen in einem Topf kreisen lässt. Stidworthy komponiert diese Geräusche regelrecht zur Sinfonie und kontrastiert sie mit gelesenen Berichten aus dem Alltag der Kommune.

Es rauscht an den Rändern der Sprache, außerhalb des Symbolischen, des Sozialen. Auch im Verhältnis von Sprache und Macht bleibt dieses Rauschen spürbar. In „Sacha (listening)“ (2011 – 2012) zeigt Stidworthy den blinden Sacha van Loo hochkonzentriert mit Kopfhörern und geschlossenen Augen in eine Sprachanalyse vertieft. Er setzt sein hochempfindliches Gehör ein, um Aufzeichnungen der Antwerpener Polizei zu entschlüsseln. Doch hört er in Stidworthys Arbeit kein mitgeschnittenes Gespräch ab, sondern gesprochene Passagen aus Alexander Solschenizyns Roman „Der erste Kreis der Hölle“ (1968), in dem dieser die Erfahrung seiner Inhaftierung in einem sowjetischen Spezialgefängnis verarbeitet, wo er zwischen 1948 und 1950 an der Entwicklung stimmbezogener Überwachungstechnologien mitwirken musste. Besucher*innen nehmen die Textfragmente lediglich durch van Loos Murmeln war.

Der Roman ist auch Ausgangspunkt der in der Rodchenko School of Photography and Multimedia in Moskau im Auftrag der Bergen Assembly gedrehten Arbeit „A Crack in the Light”. Solschenizyns Witwe und ein Schauspieler lesen im Video Passagen aus dem Roman vor; in einer Szene versucht der Schauspieler, Stimmen auf Abhörbändern des KGB zu identifizieren, ein mühevolles, kleinteiliges Unterfangen. Stidworthy fügt diesen Aufnahmen wieder etwas hinzu, das außerhalb der Sprache liegt: einen 3D-Scan, der ein Brotstück aus dem Solschenizyn-Archiv umkreist, das dieser vor seiner Ausweisung in den Westen 1974 von seiner letzten Mahlzeit im Gefängnis aufbewahrte. Hier wie in anderen Installationen arbeitet Stidworthy fragmentarisch, splittet Aufgezeichnetes auf mehrere Video- und Audiokanäle und verdichtet alles zu einer gleichzeitigen Erfahrung. So dekonstruiert sie auch das lineare Narrativ, das der Stuttgarter Parcours – so wie die Sprache – zunächst vorzugeben scheint.

In „The Whisper Heard“ (2003) lässt sie eine von ihr gelesene Passage aus Jule Vernes Roman „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ (1864) nachsprechen. Der Held erwacht aus der Bewusstlosigkeit und nimmt aus der Ferne vertraute Stimmen wahr. Die Stidworthys klingt aus einem Lautsprecher, die eines Dreijährigen aus einem weiteren, dazu mischt sich die des erwachsenen Tony O’Donnell, den wir auf zwei Projektionen sehen. Nach einem Schlaganfall kann er die Worte zwar verstehen, aber kaum formen. Der Dreijährige wiederum kann die Worte zwar nachsprechen, sie aber nicht verstehen. Er betritt die Bühne des Symbolischen gerade erst. Für Tony O’Donnell verdunkelt sie sich.

Imogen Stidworthy: Dialogues with People, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 27.10.2018 bis 13.1.2019