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Stadtruinen: Raum für Subkultur oder Neuland für Image-Mache? 06/2010, dienacht

Städte leben von Kontrasten. Von Konsumtempeln und Flohmärkten, Juppies und Linksautonomen, gigantischen Glasfassaden – und abrissreifen Stadtruinen.

Architektonische Randgestalten wie verlassene Arbeiterquartiere oder im Dornröschenschlaf schlummernde leere Industriehallen bekommen soviel Aufmerksamkeit wie nie zuvor: nicht nur von klassischen Hausbesetzern und potenten Investoren, sondern auch von Künstlern, Engagierten aus der Elektroszene und schließlich von Stadtverwaltungen, Journalisten und Wissenschaftlern. Die Diskussionen drehen sich um alte und neue Fragen: Was soll mit brachliegenden Geländen und leeren Gebäuden geschehen? Wie kann man Stadtruinen sinnvoll nutzen und mit Leben füllen? Wie geht man mit illegalen Aneignungen um? Und vor allem: Werden Künstler und Subkulturschaffende sang- und klanglos in Stadtruinen geduldet, weil sie am Image der Stadt mitpolieren, und bleibt ihnen nichts anderes übrig als Teil einer Kampagne zu werden? Städte und ihre Strukturen leben, wandeln sich und entwickeln sich weiter. Fragt sich nur, wer diese Entwicklung künftig vor allem gestaltet. Sind es Konzerne, die das nötige Großgeld haben, ist es die Politik oder haben Stadtbewohner auch noch ein Wörtchen mitzureden? Verschiedene über viele Jahre gewachsene Projekte aber auch jüngere Beispiele zeigen, wo die Entwicklungen hingehen könnten.

In Hamburg mischen sich Soziale Aktivisten und Künstler erfolgreicher denn je in die Stadtentwicklungspolitik ein. »Recht auf Stadt« nennt sich zum Beispiel ein Bündnis, das sich unter anderem gegen Gentrifizierung engagiert – die so genannte Aufwertung ärmlicher Quartiere zu Hip-Vierteln und die damit einhergehende Verdrängung der Bewohner. Dieses Schicksal hätte das Hamburger Gängeviertel erreichen können. Das ehemalige Arbeiterquartier liegt mitten zwischen den Glas- und Stahlriesen der vorrangig gewerblich genutzten und sonst blutleeren Hamburger Innenstadt. Zwischen dunklen unsanierten Fassaden spannen bunte Wäscheleinen, in den engen Hinterhöfen überrascht frische Urban Art. Die Häuser wirken wie aus einer anderen Zeit: Sie gehören zu den ältesten Hamburgs. Ein ganzes Künstlerheer bot hier jüngst den Planierraupen Einhalt, denn die vor der Besetzung im August 2009 lange Zeit leerstehenden Häuser erweckten Ende letzten Jahres das Interesse eines Investors. Ziel: Büroflächen und hochpreisigen Wohnraum schaffen. Hamburgs Vorzeigekünstler, der Maler und ehemalige Hausbesetzer Daniel Richter, erklärte sich zum Schirmherr des Gängeviertels und führte den Protest mit an. Was in den 80er und 90er Jahren noch viele Straßenschlachten und Jahre gekostet hätte, ging im Gängeviertel ganz fix. Begleitet von beachtlicher medialer Aufmerksamkeit entschied die Stadt: Die Künstler dürfen bleiben. Zwischen den alten Mauern entfalten sich jetzt Malerei, Installationen, Theater und vieles mehr. Rund 200 Künstler leben und genießen die Ruhe in ihrem erkämpften »Artotop«, nur ab und an wird sie von neugierigen Touristen unterbrochen. Eine gute Sache? Was viele der Künstler stört: Sie sorgen für das aufregende kreative Flair, das die Stadt braucht, um sich bei jungen Zielgruppen erfolgreich zu vermarkten. Dagegen wehren sich die Besetzer jetzt – and the protest goes on. Daniel Richter hat die Stadt mittlerweile verlassen, um in die Konkurrenzmetropole Berlin zu ziehen.

Gentrifizierung ist in Berlin nicht nur Begriff, sondern Alltag. Nach der Wende war der Osten dermaßen von Leerstand betroffen, dass sich für die schnell stattfindenden Besetzungen kaum jemand interessierte. Jetzt sind Stadtteile wie Prenzlauer Berg oder Friedrichshain hippe Szeneviertel, in denen ganze Häuserblöcke von Investoren aufgekauft und saniert werden. Alternative, Harz IV-Empfänger und Arbeiter leben zwar seit vielen Jahren hier, passen aber nicht mehr so recht ins von Wohlstand geprägte Bild und müssen das Feld vor allem wegen der steigenden Mietpreise räumen.

Die Aneignung urbaner Strukturen in Berlin war aber schon immer beweglich und bleibt kreativ. In den 90er Jahren besetzte eine Gruppe sogar ein Stück des ehemaligen Todesstreifens erfolgreich. Zwischen Kreuzberg und Treptow organisiert der Wagenplatz »Lohmühle« heute Konzerte, Kulturprojekte und Workshops und hofft darauf, Bebauungsplänen weiterhin trotzen zu können. Auf einem weiteren brachliegenden Abschnitt des Mauerstreifens organisiert der Verein »Kunstrepublik« regelmäßig Projekte mit verschiedenen Künstlern. Die Berliner Biennale für zeitgenössische Kunst belebte gerade einen ehemaligen Supermarkt am Oranienplatz. Diverse Projekte dieser Art erobern in der Hauptstadt immer wieder Raum. Parallel hallen Diskussionen um Gentrifizierungsprozesse durch die Kiezstraßen und drehen sich nicht selten um die Rolle von Kulturschaffenden und Künstlern. Sie machen jede noch so von der städtischen Kulturpolitik vernachlässigte Gegend schnell attraktiv und stehen vor allem in der linken Szene ebenso schnell unter Verdacht, Gentrifizierung voranzutreiben – und das, obwohl Kunst doch gerade ermöglicht, gesellschaftliche Prozesse wie diesen zu spiegeln. Beweglich ist auch die Berliner Elektroszene: Sie entwickelt sich nirgends so wie hier und findet immer neue Stadtruinen für illegale Partys.

Rund um Berlin entfaltet sich der »wilde Osten«, zwar mit weniger urbanen Strukturen, aber mit jeder Menge Leerstand. Zurückgelassene Wohnhäuser und vernagelte Bahnhöfe – Ruinen des Sozialismus – säumen die Schienen der Bummelbahnstrecken in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. In diesen oft menschenleeren Gegenden passiert immer noch nicht viel, obwohl dieser Raum für Projekte genutzt und somit kreativ belebt werden könnte. Dass der wilde Osten Potenzial hat, zeigen die vielen Subkultur- und Musikfestivals, die hier im Sommer wie Pilze aus dem Boden wachsen. Das größte hat sich schon vor Jahren etabliert: Für vier Tage beseelt das alternative Fusion Festival jedes Jahr die Hangars und Wiesen eines alten russischen Militärflugplatzes mit Musik, Visuals, Kino, Theater und rund 50.000 Besuchern.

In Sachsen verläuft die Nutzung brachliegender urbaner Strukturen schon erfolgreich und zunehmend professionell. Die von Künstlern nach der Wende besetzte alte Baumwollspinnerei in Leipzig zieht heute ganze Touristenschwärme an. Sie reisen vor allem an, um zu sehen, wo Maler Neo Rauch, der Star der Neuen Leipziger Schule, lebt und arbeitet. Neben ihm machen über 100 Künstler das ausgediente Industriegelände zu einer regelrechten Kunstfabrik und einem der florierendsten Umschlagplätze für Kunst in Europa – und das mitten in Lindenau, einem der ärmsten Viertel Leipzigs.

Alte Klinker, junge Künstler und ein Stück Industriegeschichte: Eine Mischung, die in vielen Städten funktioniert und fasziniert. Auch in Bremen. Hier ziehen sich entlang des alten Industriehafens viele ehemalige Fabrikgebäude und Speicher, die temporär auch von der Kunstszene erschlossen werden. So stellten diesen Sommer Studenten der Hochschule für Künste Installationen, Videokunst und Fotografien zum Beispiel im derzeit leerstehenden alten Kabawerk aus.

Ohnehin zeigt sich Bremens Szene aktiv, wenn es um die Nutzung urbanen Leerstands in der Hansestadt geht. Ein Vorzeigebeispiel ist das Projekt »Neuland«. Im Sommer 2010 durften Subkulturschaffende und Künstler das Gelände und die Gebäude einer ehemaligen Suchtklinik bespielen, bis die Planierraupen anrückten, um Fläche für den Bau einer Autobahn zu schaffen. Im Vergleich zu den verlassenen Industriegebäuden und Lagerhallen, in denen die Elektroszene sonst ihre illegalen Feste feiert, war das Gelände eher untypisch anzusehen. Zwischen alten Blümchentapeten, Stuckresten, einem Teich und Kaninchenställen fanden sich Besucher zu Filmvorführungen und Podiumsdiskussionen rund um szenerelevante Themen ein und ließen sich von Kunstinstallationen und Beats berieseln. Was sonst eher bei illegalen Veranstaltungen gelingt, nämlich fernab von kommerziellen Absichten ein subkulturelles Programm auf die Beine zu stellen, konnte hier legal versucht werden. Zwischen der Stadt Bremen und der Szene Bremen vermittelte die »Zwischenzeitzentrale« ZZZ. Dieses zukunftsweisende Projekt macht es möglich, leerstehende Gebäude und Brachflächen gegen geringe Mieten temporär zu nutzen. Gefragt sind kreative Ideen und Konzepte auf der einen Seite sowie aufgeschlossene Immobilienbesitzer auf der anderen Seite. Haar in der Suppe: Szenemenschen finden sich plötzlich inmitten von Stadtentwicklungsprozessen, in denen das Streben nach einem kreativen Stadtimage und die damit verbundene Steigerung des »Bruttoinstadtprodukts« meist vorherrschen.

Leerstand inspiriert und bietet Raum, davon profitieren gerade junge urbane Kunst und Subkultur. Ob Installationen in alten Industriehallen, elektronische Musik auf brachliegenden Geländen oder Gemeinschaftsprojekte in ganzen Vierteln: Viele erfolgreiche Beispiele zeigen, wie ungenutzter Raum nachhaltig und legal genutzt werden kann. Aber auch illegal entwickeln sich an immer wieder neu entdeckten Orten urbane Subkultur-Bewegungen, in denen es längst nicht nur ums Feiern, sondern um künstlerisches und politisches Engagement geht.