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Performance wie ein Trauma: Benoît Lachambres „Snakeskins (A fake solo)” 08/2012, Tanz im August-Blog

Benoît Lachambre öffnet eine Spalte zu seinem Unbewussten und lässt das Publikum hinein. Was es dort zu erleben gibt, ist faszinierend, abstoßend, berauschend, schockierend, entzückend, traumatisierend. Von Anfang bis Ende. Doch eigentlich hat „Snakeskins (A fake solo)“ weder einen Anfang noch ein Ende. Als die Zuschauer sich in dieser schwülen Sommernacht im Garten der Halle Tanzbühne Berlin sammeln, steht Lachambre bereits vor einer bebilderten Stellwand, die Knie eingeknickt, den Oberkörper nach vorne gebeugt, und bewegt sich langsam wie ein lauerndes Tier. Er trägt enge Shorts, schwere Stiefel und eine Lederweste aus lauter Riemen und Nieten, die langen Haare sind streng zurückgekämmt und zu einem Dutt gebunden.

Seit drei Jahrzehnten kreiert der 52-Jährige radikale Performances, schlüpft mit Vorliebe in groteske Rollen. Im schwachen Licht der Scheinwerfer sieht der leichenblasse Lachambre aus wie eine Mischung aus alterndem Punk und Rutger Hauer in Ridley Scotts Film “Blade Runner”. Ein Assistent, der Choreograf und Tänzer Daniele Albanese, greift sich Teile der Stellwand, hängt sie an Lachambres Korsett, nimmt sie wieder ab. Er trägt eine silberne Maske mit Augenschlitzen, es sieht aus, als hätte jemand seinen Kopf mit Gaffa-Tape abgeklebt. Wird das hier eine Freakshow? Was noch kommt, hätte die Surrealisten vor Neid erblassen lassen.

Im Saal empfängt Experimentalmusiker Hahn Rowe die Zuschauer mit psychedelischen Klängen. Er wird die ganze Show begleiten, mit Geige, E-Gitarre, Synthesizer, zitternden Blechen, Mundharmonika und allem, was er mit seinem Geigenbogen bearbeiten kann. Von einer großen Stahlkonstruktion hängen weiße Schnüre, verlaufen nach hinten zu einem Fluchtpunkt hin und suggerieren einen Sog in die kapriziöse Welt des Künstlers. Ästhetisch bewegt sich die Performance irgendwo zwischen Technoclub-Darkroom, Happening und schizoidem Selbstporträt.

Lachambre befestigt seine Lederriemenkorsage in der Mitte der Konstruktion, lässt sich fallen, schwingt und krabbelt wie eine Spinne in ihrem Netz. Oder wie ein Sklave in einem Sadomaso-Keller. Dann schlüpft er aus der Weste heraus, lässt sie hängen wie eine abgelegte Schlangenhaut. Sein Kostüm wechselt er noch mehrfach, trägt Glitzerweste, Jeansanzug und Latexradlerhose, lässt seine aus dieser hervorschauende Poritze vor dem Publikum kreisen.

Als er sich eine Art Spiderman-Maske überzieht, einen Gurt umschnallt, gegen den Widerstand nach vorne rennt, zu bedrohlich wummernden Klängen mechanisch präzise zuckt und einzelne Zuschauer durch die Augenschlitze anstarrt, macht das Angst. Erst bei seinem kurzen Monolog wird Lachambre endlich menschlich. Er stülpt sich einen aufgeschlitzten Basketball über den Kopf, steckt ein Mikrofon durch und gibt verzweifelte Laute von sich, dann zieht er ihn vom Kopf und beschreibt zärtlich wimmernd die Oberfläche des Basketballs.

Seinen Höhepunkt erreicht das Spektakel mit einer Einlage, die an die mit Sound und Licht arbeitenden psychedelischen Performances der 1960er Jahre erinnert, etwa an die bei der Transmediale 2012 in Berlin wieder aufgeführte Joshua Light Show. Lachambre greift die Schnüre und schüttelt sie in einer Lichtprojektion so heftig, dass es aussieht, als würde die Bühne in Flammen aufgehen.

Metamorphosen durchlebt er an diesem Abend einige. Sein Körper aber bleibt derselbe, ihm kann er nicht entkommen. „We are all in the fucking body of the snake!“, schreit er verzweifelt, „We are going to die!“ In einem Interview anlässlich der Premiere des Stücks im Mai diesen Jahres im Essener Pact Zollverein sagte er, es ginge ihm um die Notwendigkeit loszulassen und um das Nichtloslassenkönnen: Eine hoffnungslose Antithese, in der man sich nur verheddern kann. An diesem Abend verheddert sich Lachambre ein paar mal gewollt in den Schnüren und im Mikrofonkabel.

Mit einer Verbeugung signalisiert er schließlich das Ende der Show, dann tanzt er weiter. Das Licht über den Köpfen des Publikums geht an, dann aus, wieder an, aus. Musik und Performance laufen weiter, neue Verbeugungen, neue Szenen. Verstörte Gesichter auf dem Weg nach draußen.

Artikel im Tanz im August-Blog