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“Ich muss mich nicht persönlich ausdrücken” – eine Begegnung mit Deborah Hay 08/2012, Tanz im August-Blog

Deborah Hay hat es sich mit ausgestreckten Beinen und nackten Füßen auf einem Sofa im Foyer des HAU2 gemütlich gemacht. Ihr Teint ist frisch, sie strahlt, obwohl sie gerade erst in Berlin gelandet ist. Die Nachmittagssonne taucht die Bar und die Sitzgruppen in warmes Licht, es ist still: die Ruhe vor dem Ansturm am Abend. Hay stellt bei Tanz im August ihr Solo „No Time to Fly“ vor.

Die zwei Vorführungen sind restlos ausverkauft, jeder will Hay sehen, schließlich ist sie wandelnde Tanzgeschichte. Die heute 71-Jährige studierte bei der Tanzlegende Merce Cunningham, gehörte in den 1960er Jahren mit Tänzerinnen wie Yvonne Rainer und Trisha Brown aber auch visuellen Künstlern wie Robert Rauschenberg zum Judson Dance Theatre. In einer Kirche im New Yorker Stadtteil Greenwich Village schlossen sie Tanz mit den künstlerischen Avantgarden kurz und entwickelten ihr bahnbrechendes postmodernes Programm. Eigentlich sei es aber gar nicht darum gegangen, etwas Neues zu schaffen, erklärt Hay: „Es ging vor allem darum, etwas zu zerstören. Es war völlig chaotisch, verrückt, lustig. Dieser radikale Geist hat sich in mir erhalten.“

Ein radikaler Charakter ist das Letzte, was einem im Gespräch mit dieser tiefenentschleunigten Frau in den Sinn kommt. Sie trägt eine modische Hornbrille, hat ihre vollen grauen Locken mit einem weißen Tuch zusammengebunden, lächelt freundlich. Radikal ist ihre Arbeitsweise. Wenn sie eine Choreografie entwickelt, versuche sie überhaupt nicht zu lenken oder Absichten zu verfolgen. „Das ist Caging. Ich habe nichts zu sagen,“ amüsiert sich Hay. Sie mache Listen mit Bewegungen, die ihr gerade in den Sinn kommen, zerschneide sie, werfe sie in die Luft und hebe die Schnipsel dann nacheinander auf. So ergebe sich der Ablauf einer Choreografie.

Mit „Caging“ meint Hay die experimentelle Kompositionsweise des Musikers John Cage, einer der schillerndsten Künstlerfiguren des 20. Jahrhunderts und geistiger Vater der Judson-Ära. Auch er arbeitete mit dem Zufall, integrierte Alltagsgeräusche in seine Kompositionen, hinterfragte Sinn und Ausdruck und schuf so neodadaistische Werke. Kein anderer habe sie so beeinflusst wie Cage, sagt Hay: „Seine Kompositionen haben mich völlig aus diesem Modus heraus gebracht, mich persönlich ausdrücken zu müssen.“

Angeregt von Cages Kunstverständnis erhöhte die Judson-Gruppe schlichte Alltagsbewegungen zu künstlerischen Gesten, ließ Laien mitmachen, befreite den Tanz von Konvention und tradierter Ästhetik. Sie hätten einfach alles herausgefordert und neu gedacht, sagt Hay, das mache sie auch heute noch. Sie wolle Fragen stellen, zum Beispiel danach, was Choreografie eigentlich sei. „Es gibt heute ganz verschiedene Ausdrucksmodi, für das Ballett, für den modernen Tanz, für Improvisation. Das ist schön. Aber was ist da noch?“

Artikel im Tanz im August-Blog

Hay forscht weiter, ihr Lebenswerk ist ein Prozess. 1970 verließ sie New York und ging nach Vermont im Nordosten der USA, lebte über sechs Jahre lang in einer Hippie-Kommune, zog sich aus der Tanzszene zurück, baute Gemüse an und kümmerte sich um ihre Tochter. „Das Wichtigste, was ich in dieser Zeit gelernt habe, war Stille. Die Arbeit, die ich heute noch mache, begann eigentlich erst dort.“ Hay arbeitet ohne Musik, setzt nur ihren Körper und ihre Stimme ein, gibt mit den Bewegungen Laute von sich. Nur ein Zitat des Schriftstellers Samuel Beckett habe sie jetzt schon für drei oder vier Stücke verwendet. Sie macht eine Pause, richtet sich auf und sagt theatralisch: „Strictly speaking I believe I’ve never been anywhere.“ Dann lacht sie und fügt hinzu: „Das ist die wichtigste Erkenntnis über meine Ästhetik.“

Sprache spielt für Hay vor allem nach der Aufführung eine Rolle, dann übersetzt sie die Performance in Prosa, überträgt die Bewegungen in Metaphern und Analogien, reiht poetische Beschreibungen von Gesten und Figuren aneinander. „Choreografie ist für mich das, was entsteht, wenn ein Stück schon aufgeführt wurde. Dann schreibe ich darüber und lerne so, was ich da überhaupt mache.“

Nach 40 Minuten Gespräch fühlt sich Hay dann doch erschöpft, sie wolle sich nun ausruhen für die Vorstellung am Abend. Doch eines sei ihr noch wichtig, sagt sie, das wolle sie noch loswerden: „Tanz ist von Kontinuität geprägt, historisch genauso wie formal. Spannender ist aber die Diskontinuität, das Brechen mit den Normen der Aufführung und das damit einhergehende Erzeugen von Aha-Erlebnissen. Das schaffen nicht viele Choreografen. Doch hier wird es für mich erst richtig interessant, wenn eine Kontinuität der Diskontinuität erreicht ist, ein Aha, Aha, Aha, Aha!“