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Erfahrungen in der Kasseler Black Box 06/2012, Zeit Online

Mit seinen „Situationen“ mischt der Berliner Künstler Tino Sehgal die Kunstwelt auf: derzeit bei der Documenta 13, ab Juli in der Turbine Hall der Tate Modern.

Der Katalog zur Documenta 13 kündigt auf den Seiten 438 und 439 einen Begleittext zu Tino Sehgal an. Doch die Seiten fehlen. Seine mit Tänzern oder Schauspielern inszenierten Situationen sind immateriell, flüchtig, außer in Kritiken nicht dokumentiert. Auch nicht im Documenta-Katalog.

In der Kunstwelt sorgen Sehgals Situationen für Aufsehen, vor allem, weil sie sich ihren Regeln entziehen. Bei der 51. Venedig-Biennale im Sommer 2005 sprangen den Besuchern des deutschen Pavillons vermeintliche Museumswärter entgegen, warfen die Arme in die Höhe und sangen: „This is so contemporary!“ . 2010 schickte Sehgal die Besucher seiner Einzelausstellung im New Yorker Guggenheim Museum mit This Progress in mehrere Dialogrunden. Zuerst führte sie ein kleines Mädchen, dann ein Jugendlicher, dann ein Mann mittleren Alters und so weiter die Rotunde hinauf, um sie in ein Gespräch über Fortschritt zu verwickeln. Keine Fotos, keine Filmaufnahmen. Nur Erfahrung und Erinnerung: Dieses Vorgehen hüllt den in Berlin lebenden Künstler und sein Werk in eine rätselhaft-nebulöse Aura, die langsam aufklart, als er in einer Kasseler Hotellobby bei Pfefferminztee und Erdbeertorte von seiner Arbeit erzählt.

Man könnte vermuten, Sehgal wolle mit seinen der Dingwelt entzogenen Situationen die Objektfetischisierung in der bildenden Kunst anprangern. Dem sei nicht so, schon gar nicht im Marxschen Sinne, beteuert er. Immerhin verkauft er die Rechte an seinen editionierten Situationen zu Preisen im fünfstelligen Bereich. „Mit der Idee des Fetisch habe ich an sich kein Problem. Ich habe auch ‚Lieblingsgegenstände‘, wie Bruno Latour sagen würde.“ Aber Objekten werde in unserer Kultur ein zu hoher Stellenwert zugesprochen, findet Sehgal. „Wir erwarten zu viel von Objekten, zum Beispiel, dass sie Subjektivität generieren. Die entsteht aber durch Arbeit an sich selbst und Interaktion mit anderen. Und nicht dadurch, dass man sich irgendeinen Gegenstand kauft und anheftet.“Sehgals Haare sind noch vom Wind zerzaust, sein Auftritt passt zu dem philosophischen Ton, den er anschlägt – auch in seinen Situationen. Sie fordern emotional und intellektuell.

In Kassel verfrachtet Sehgal die Besucher buchstäblich in eine Black Box. Irritiert tasten sie sich in das Dunkel eines großen Containers, umhüllt von a cappella vorgetragenen Songs, rhythmischem Klatschen, Beat-Box-Geräuschen und dem Quietschen von Turnschuhen. Die Stimmen kommen näher, Hände schieben die Besucher sanft weiter in den Raum hinein. Eine ungewohnte Nähe, schließlich ist man im Alltag auf Abstand bedacht. Auch im Theater will man ja nicht mitten auf der Bühne sitzen. Wer sich traut und bleibt, wird mit einem mitreißenden kleinen Spektakel belohnt.

Nach ein paar Minuten tauchen schemenhaft Konturen auf, die Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit und machen schließlich ein Dutzend junger Tänzer aus. Manchmal wird es still und persönlich, die Formation im Raum verändert sich, jemand ergreift das Wort: „Ich habe Hunde ausgeführt, um mein Studium zu finanzieren.“ Ein anderer erzählt, er könne in Gruppen einfach nicht er selbst sein, habe immer das Gefühl, sich zu blamieren. Dann schnipst jemand einen Rhythmus vor, alle steigen ein, tanzen und singen, mal synchron, mal individuell, mal lassen sich Elemente aus Hip-Hop oder Lindy Hop erahnen, mal bewegen sich die Tänzer minimalistisch-repetitiv.

Irgendwann ist es wieder still und jemand spricht: „Das Einkommen, das die Menschen aufgrund der Produktion von Dingen von geringer Bedeutung generieren, ist von großer Bedeutung“. Ein anderer wiederholt den Satz, leicht abgewandelt. So geht es hin und her, 100 Tage lang, zehn Stunden am Tag. This Variation heißt Tino Sehgals Documenta-Beitrag – er saugt die Besucher ein, berieselt sie mit einer kathartischen Erfahrung und spuckt sie wieder in die schreiend helle Realität aus.

Gerade pendelt der studierte Choreograph und Volkswirt zwischen Kassel und London hin und her, denn während This Variation Besucher schluckt und wieder ausspuckt, laufen die Vorbereitungen für die Turbine Hall auf Hochtouren. Größen wie Louise Bourgeois, Anish Kapoor und Ai Weiwei zeigten hier auf über 3.400 Quadratmetern gigantische Installationen. „Als ich 2008 die erste E-Mail mit dem Betreff ‚Turbine Hall‘ bekam, hab ich schon gestaunt. Ich musste mich erst mal an ein so großes Format gewöhnen, wie ein Maler an eine großformatige Leinwand.“

Was Sehgal in petto hat, ist noch geheim. Performance soll es aber nicht genannt werden, so viel steht fest, denn Performance-Kunst und Fluxus lehne er ab: „Beide Bewegungen brachen mit den Aufführungskünsten, vielleicht um sich zu legitimieren. Damit schnitten sie aber eine ganze Tradition einfach ab, zum Beispiel Vaslav Nijinsky, George Balanchine oder die Stücke des Ballets Russe. Als ob das nicht auch experimentell und progressiv war.“ Minimal Art und Konzeptkunst seien viel wichtigere Inspirationsquellen für ihn gewesen. Wer Sehgals neue Situation erleben will, muss nach London fahren – dokumentiert wird sie nicht. Wahrscheinlich wird man ausrufen wollen: „Oh, this is so contemporary!“


Tino Sehgal, fotografiert für Zeit Online