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Eine Gesellschaft, die sich immer wieder häutet 12/2012, Zeit Online

Mit Skulpturen aus Secondhandkleidung blickt die Künstlerin Yin Xiuzhen unter die Oberfläche der chinesischen Gesellschaft. Eine Schau in Düsseldorf zeigt ihr Gesamtwerk.

Hunderte Hemden, Blusen und T-Shirts spannen über Drähten und formen ein gigantisches begehbares Gehirn. Wer in die Skulptur hineinkriecht, dringt in einen blau leuchtenden, intimen Raum ein. Thought heißt die Arbeit von Yin Xiuzhen, eine der bedeutendsten Künstlerinnen Chinas. Ihre erste Einzelausstellung in Europa ist nun in der Kunsthalle Düsseldorf zu sehen.

Für ihre Skulpturen aus getragenen Textilien, die oft die Formen von Fortschrittssymbolen wie Motoren, Flugzeuge oder Autos annehmen, wurde Yin international bekannt. Ihr Werk spiegelt die innere Zerrissenheit der Chinesen, die hin und her taumeln zwischen Tradition und Fortschritt, Abgeschiedenheit und Globalisierung, sozialistischen Theorien und kapitalistischer Realität.

Der Kapitalismus sei längst beim Volk angekommen, sagt Yin: „Das ist wie ein Sog, der einen mitreißt: Jeder will ein Auto und ein Haus kaufen, um in der Gesellschaft weiterzukommen. Das sind geradezu Verpflichtungen.“

Die in aufwendiger Handarbeit gefertigten Skulpturen stehen im krassen Kontrast zur Massenproduktion, die den Alltag vieler Chinesen bestimmt. Unweigerlich denkt man an die Textilindustrie und die dort herrschenden unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Yin geht es aber um etwas anderes: Sie nutze die gebrauchten Kleider vor allem, weil sie als Erinnerungsträger fungierten, sagt sie. Sie stehen wie abgestreifte Häute für Erlebtes, für das individuelle Moment im kollektiven Sog, für die Metamorphosen, die jeder erwachsene Chinese erfahren hat.

Yin hat in ihrem Leben selbst tief greifende Veränderungen erlebt. 1960 geboren wuchs sie während der von Mao Zedong geführten Kulturrevolution auf, erlebte Mangelwirtschaft, den Aufstieg Chinas zur Wirtschaftsmacht und den damit einhergehenden ideologischen Wandel. Ebenso radikal waren die Veränderungen in der Kunst. In den 1980er Jahren, als sie anfing, Malerei zu studieren, öffnete sich das Land und die Künstler kamen mit Arbeiten internationaler Kollegen in Kontakt. Sie befreiten sich von traditionellen Zwängen, entdeckten neue Themen und Ausdrucksmöglichkeiten wie Performance, Installation oder Videokunst.

Heute zählt Yin zu den Vorzeigekünstlerinnen des Landes, 2007 bespielte sie bei der Biennale in Venedig den chinesischen Pavillon mit der Arbeit Weapon. Für die Installation an der Decke des Pavillons griff sie die Geschichte des Gebäudes, eines ehemaligen Waffenarsenals, auf. Sie umwickelte Alltagsobjekte, alte Öltrommeln und Messer mit Secondhandkleidung und formte mehrere Skulpturen, die wie altertümliche Lanzen und gleichzeitig wie Fernsehfunktürme aussahen: Medien als Waffen.

Mit der Staatsmacht habe sie nie Probleme gehabt, sagt Yin. Ihre Arbeiten sind weniger drastisch als etwa die ihres Kollegen Ai Weiwei, eine deutliche Sprache sprechen aber auch sie. Mit ihrer Arbeit Transformation aus dem Jahr 1997 etwa reagierte Yin auf den rasanten Wandel ihrer Heimatstadt Peking zur Fortschrittsmetropole, sammelte Dachziegel zerstörter Häuser, die groß angelegten Stadtplanungsprojekten Platz machen mussten, und reihte sie zusammen mit Fotos dieser Häuser auf.

2005 ließ sie in der Stadt Chengdu für „Washing the River“ Wasser aus dem extrem verschmutzten Fluss Funan entnehmen und in große Blöcke einfrieren, drückte Passanten Eimer mit sauberem Trinkwasser und Bürsten in die Hände und bat sie darum, das gefrorene Flusswasser zu reinigen.

Für „Collective Subconscious“ (2007) schnitt sie einen ausrangierten Minibus, ein im boomenden Peking der 1990er Jahre viel genutztes Transportmittel, in zwei Hälften und nähte aus getragener Kleidung ein mehrere Meter langes begehbares Mittelteil. Im Inneren dieses raupenartigen Schlauchs richtete sie einen Ort zum Verweilen ein, mit Musik und Hockern, die Chinesen in den 1960er und 1970er Jahren oft selbst bauten und zu öffentlichen Versammlungen mitnahmen. Damit erinnerte sie an ein Kollektivitätsideal, das in der schnelllebigen Gesellschaft genauso ausgedient hat wie der Minibus.

Eine Gesellschaft, die sich immer wieder häutet, das ist Yins Thema. Sie visualisiert das Trauma des in den kollektiven Metamorphosen taumelnden Individuums. Die Ausstellung in Düsseldorf gewährt den Besuchern einen seltenen Einblick in diesen Seelenzustand.

Die Kunsthalle Düsseldorf zeigt in Zusammenarbeit mit dem Groninger Museum die erste große Einzelausstellung zu Yin Xiuzhens Werk in Europa, vom 15.12.2012 bis zum 10.3.2013

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