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Eine einzigartige Sogwirkung 02/2012, Schirn Mag

Munchs Bildkompositionen spiegeln verschiedene Strömungen aus Film, Fotografie und der Malerei der Moderne wider. „Der optische Raum“ zeigt in „Edvard Munch. Der moderne Blick“ wie der Maler damit experimentierte.

Schreie. Das Pferd reitet auf uns zu! Einige Zuschauer springen mit weit aufgerissenen Augen von ihren Stühlen auf. Andere bleiben ruhig sitzen und lachen – sie waren schon häufiger hier. An das Kino gewöhnt man sich schnell, es macht süchtig. Seit die Brüder Lumière 1895 der Welt in Paris mit „Arbeiter verlassen die Lumière-Werke“ den ersten Film vorgestellt haben, ist die Begeisterung ungebrochen. Mittlerweile gibt es in ganz Europa Kinos, auch in Norwegen.

Edvard Munch ist ständig im Kino. Manche Filme schaut er sich mehrmals an, ihn interessiert die Bewegung auf der Leinwand. Und tatsächlich: Auch auf seinen Leinwänden fangen die Figuren bald an, sich zu bewegen. Sie gehen auf den Betrachter zu, starren ihn an oder laufen aus dem Bild heraus, wie die beiden Damen in der „Neuschnee in der Allee“. In den 1880er- und 1890er-Jahren waren Munchs Figuren noch reglos, schienen sich ganz ihrer Melancholie hinzugeben. Doch jetzt dieses Pferd: Es galoppiert auf den Betrachter zu, als reiße die Leinwand jeden Moment in Stücke – man kann das Wiehern hören und die Aufregung der Figuren im Hintergrund spüren. Genau das will Munch: Der Betrachter soll spüren. Er sucht ein optisches Mittel für den Effekt.

Das Bild „Arbeiter auf dem Heimweg“ ist ein anderes Beispiel. Es erweckt den Anschein, als stehe man als Betrachter mitten auf der staubigen Straße und links und rechts gingen die müden Arbeiter an einem vorbei. Unwillkürlich drängt sich hier das Film-Pionierwerk der Brüder Lumière auf. Aber es gibt noch mehr in diesem Gemälde zu entdecken: Die Männer sind aus unterschiedlichen Perspektiven gemalt, das kann der Film beim besten Willen nicht leisten. Ein Fehler? Nein, Munch ist schließlich Profi. Vielmehr erforscht er neben der filmischen Ästhetik auch die der Malerei gegebenen optischen Möglichkeiten, wie etwa die Perspektivverzerrung die er in den Werken der Kubisten und Futuristen entdeckt hat.

Von Anfang an experimentierte Munch mit kompositorischen Möglichkeiten. Schon in seinen frühen Arbeiten strukturierte er die Bildfläche mit diagonalen Feldlinien, wählte dynamische Perspektiven und schnitt Motive an. Viele seiner bekanntesten Gemälde, etwa „Der Schrei“, sind so komponiert und entfalten eine einzigartige Sogwirkung. Dazu inspirierten ihn impressionistische Gemälde und japanische Holzschnitte von Meistern wie Hokusai. Als diese den Pariser Kunstmarkt überfluten, war an den Film noch nicht zu denken. Die Fotografie dagegen war schon allgegenwärtig – auch in Munchs Gemälden.

Täglich blättert Munch durch die Illustrierten, die jetzt zugunsten der Fotografien immer kürzere Artikel bringen. Ludvig Ravensburg muss im Wohnzimmer seines guten Freundes über Stapel von Illustrierten steigen, wenn er zu Besuch ist. Natürlich suchen die Redakteure aus, was die Leser fesselt. Und das sind dynamische Bilder, Menschen in Bewegung. Und noch besser: Masse in Bewegung. In den 1910er-Jahren bekommen die Fotografen viele Demonstrationen von streikenden Arbeitern oder aufmarschierende Soldaten vor die Linse.

Auf den Boulevards und Promenaden, wo die feine Gesellschaft anmutig flaniert, tauchen plötzlich so genannte „Surprisers“ auf und knipsen Fotos. So entstehen die beliebten Porträts im Gehen – die lassen sich gut an die eleganten Damen verkaufen. Der Fotograf Carl Størmer macht solche Porträts von der Kristiania-Prominenz für die Zeitung „Aftenposten“. Munch reißt die Fotoseiten manchmal aus und hebt sie auf. Irgendwann tauchen Menschen mit nach vorne gesetztem Fuß auch in seinen Bildern auf, zum Beispiel in seinem Porträt von Thorvald Løchen. Steigt er gleich aus dem Gemälde heraus?

Ziel der verschiedenen Arrangements in Munchs Bildern ist stets dasselbe: die größtmögliche Involvierung des Betrachters. Das gelingt selbst heute noch. Die faszinierenden Arbeiten des großen norwegischen Malers nehmen das Publikum mit auf eine emotionale Reise und auf eine durch die optischen Umwälzungen der Moderne.

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