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Die Kunst spielt Luftgitarre 09/2013, Zeit Online

Die 13. Istanbul-Biennale fragt, wie Kunst sich zur Stadtentwicklung äußern kann. Doch während draußen der Protest tobt, verharrt die Schau drinnen in den Institutionen.

Der Wilhelm-Leuschner-Platz in Leipzig soll zum extraterritorialen Gebiet erklärt werden. Keine Autorität soll auf ihm gelten. Die Leipziger sollen ihn selbst verwalten und über das Budget für die Realisierung des dort geplanten „Freiheits- und Einheitsdenkmals“ zur Erinnerung an die friedliche Revolution von 1989 – rund 6,5 Millionen Euro – frei verfügen. Der spanische Künstler Santiago Sierra formuliert diese Forderungen in seiner Arbeit „Conceptual Monument“, die er für den von der Stadt Leipzig ausgeschriebenen Wettbewerb entwickelt hat. In die Endrunde kam Sierras Vorschlag nicht. Doch mit der Frage nach der Hoheit über den öffentlichen Raum fügt sich die Arbeit bestens in den thematischen Rahmen der 13. Istanbul-Biennale, wo sie jetzt gezeigt wird.

Die Biennale-Kuratorin Fulya Erdemci hat für die Schau mit dem Titel „Mom, am I barbarian?“ Werke zusammengestellt, die sich mit Veränderungsprozessen in Städten und Möglichkeiten der Partizipation auseinandersetzen. „Der öffentliche Raum als politisches Forum“, lautet das Thema. Es stand fest, lange bevor die Proteste um den Gezi-Park ausbrachen. Doch die Neugier und internationale Aufmerksamkeit für die Großausstellung wuchs mit jedem Tag des Konflikts. Wem gehört die Stadt? Nun stellen Kunst und Aktivismus in Istanbul dieselbe Frage, zumindest für die Laufzeit der Biennale. Die Kunst muss sich in dieser Gemengelage verorten und auf ihr politisches Potenzial hin abklopfen lassen.

Ein großer Teil der Istanbuler Kunstszene hat sich von Anfang an mit den Menschen im Gezi-Park solidarisiert, auch die Kuratorin Erdemci. Trotzdem zieht sie eine klare Trennlinie zwischen Kunst und Aktivismus. Es handle sich um unterschiedliche Sphären, die allerdings die gleichen Ziele verfolgen könnten, sagt Erdemci. Das sei eben jetzt der Fall. „Kunst kreiert utopische Momente. Und Gezi hat uns gezeigt, dass sie ganz plötzlich Realität werden können.“

Noch im Januar hatten Erdemci und Bige Örer, die Leiterin der Biennale, angekündigt, den Taksim-Platz, den Gezi-Park und andere Plätze für künstlerische Arbeiten nutzen zu wollen. Doch angesichts der Eskalation haben sich die beiden dann doch dagegen entschieden. „Wir wollten nicht mit den lokalen Behörden kooperieren, die noch nicht mal ein Picknick im Park genehmigen“, sagt Örer.

Für die Biennale erweist sich der Rückzug in fünf Kunstinstitutionen und Ausstellungsräume der Stadt als Amputation von Möglichkeiten. Den öffentlichen Raum zu thematisieren, ohne sich darin zu bewegen, ist wie Trockenschwimmen oder Luftgitarre spielen. Auch weil künstlerische Interventionen bei den seit Juni tobenden Protesten immer wieder eine große Rolle gespielt haben. Mal tanzten Derwische in Gasmasken unter den Protestierenden, dann strichen Bürger die Treppen Istanbuls in Regenbogenfarben. Der als „stehender Mann“ bekannt gewordene Erdem Gündüz regte mit seiner stillen Performance Hunderte zum Nachahmen an.

Wie kritische Kunst im öffentlichen Raum hätte aussehen können, zeigt die Schau lediglich in fotografisch und filmisch dokumentierten Werken. Da sind Arbeiten aus den Siebziger Jahren, als Künstler ihre Kritik raus auf die Straße brachten. Gordon Matta-Clark etwa bearbeitete in New York Häuser mit der Motorsäge, entfernte Gebäudeteile und schuf so eindrucksvolle Skulpturen. Seine Cuttings entstanden zu einer Zeit, als die Einwohner New Yorks gegen Immobilienspekulanten protestierten. Die US-Amerikanerin Mierle Laderman Ukeles verwies in ihren Aktionen immer wieder auf die harte körperliche Arbeit von Stadtangestellten. Für „Touch Sanitation“ schüttelte sie vielen Tausend New Yorker Müllmännern zum Dank die Hand.

Wie die Proteste entstand auch das Konzept der Biennale aus der aufgestauten Wut über die neoliberale Stadtentwicklungspolitik der Regierung des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Um Shopping-Malls, Hotels und Wohnkomplexe zu bauen, wurden in den vergangenen Jahren Dutzende öffentliche Parks zerstört, historische Bauten abgerissen und Tausende Anwohner aus ärmlichen Stadtvierteln vertrieben. Im Fokus der Biennale stehe die Suche nach den Sprachen, mit denen Künstler ihre Kritik an solchen Entwicklungen formulieren, sagt Örer.

Der türkische Künstler Halil Altlindere hat sich für eine klare Ansage entschieden. Durch die Haupthalle schallen wütend ausgestoßene Verse von jungen Roma-Männern. Für „Wonderland“ hat Altlindere sich bei der Ästhetik von Hip-Hop-Videos bedient, sein Clip erzählt von der Zwangsräumung des Istanbuler Viertels Sulukule vor einigen Jahren. Damals wurden 600 Jahre Roma-Kultur weggewischt, sie musste Platz machen für Luxus-Appartments.

Verlust der Verbindung zwischen Stadtlandschaft und der Geschichte der Region

Etwas außerhalb der Stadt nimmt der Bauwahn noch krassere Ausmaße an. Im Jahr 2023, pünktlich zum 100. Geburtstag der Republik, soll der Istanbul-Kanal fertig sein, eine parallel zum Bosporus verlaufende Wasserstraße. Zwei neue Städte für je eine Million Menschen werden gleich mitgebaut. Für „Between Two Seas“ lief der türkische Künstler Serkan Taycan dort, wo der Kanal entstehen soll, 69 Kilometer Land ab, und schoss für jeden Kilometer ein Foto. So lenkt er den Blick auf das, was im Größenwahn verschwinden wird.

Nicht nur in Istanbul werden derartige Mega-Projekte ohne Einbeziehung der Bewohner geplant. Viele der knapp 90 Biennale-Künstler, von denen die meisten aus Lateinamerika, dem Mittleren Osten, Asien und Nordafrika kommen, präsentieren Werke, die sich mit ähnlichen Entwicklungen in anderen Metropolen auseinandersetzen. Sie dokumentieren, reflektieren und übersetzen ihre Kritik in Zeichnungen, Skulpturen, Installationen, Filme und Performances.

Die Skulptur „Lamento“ zeigt einen Mann im Anzug, der sich an einer Wand stützt und das Gesicht in seinem Arm vergräbt. Der mexikanische Künstler Gonzalo Lebrija beklagt damit den Abriss historischer Häuser zugunsten moderner Bauten in Guadalajara und den Verlust der Verbindung zwischen Stadtlandschaft und der Geschichte der Region. Ursprünglich war „Lamento“ als gigantische Plastik geplant, doch sich Lebrija entschied sich dann doch für eine Ausführung als Miniatur, die lediglich in Ausstellungen präsentiert wird. Mitten in Guadalajara hätte Lamento sicher mehr Sprengkraft entfaltet.

Der Eintritt zur Biennale ist erstmals frei, Örer und Erdemci wollten so ein öffentliches Forum schaffen. Doch sie bleibt eine klassische Ausstellung, die mehr auf Rezeption als auf Austausch angelegt ist, auch wenn sie unbequeme Fragen stellt und starke Kunstwerke versammelt. Während drinnen Utopien wie das „Conceptual Monument“ zum Leipziger Freiheits- und Einheitsdenkmal durchgespielt werden, gehen draußen auf den Straßen die Proteste weiter.