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Das Verlangen nach echten Gesichtern wird wieder größer 03/2013, Traffic

Mit „Faces“ legt Hans Belting die erste Kulturgeschichte des Gesichts vor, damit war er für den Preis der Leipziger Buchmesse 2013 nominiert. Wir sprachen mit dem Kunsthistoriker über Close-ups, Pop-Porträts und Cyberfaces.

Mit Faces legt Hans Belting die erste Kulturgeschichte des Gesichts vor, damit war er für den Preis der Leipziger Buchmesse 2013 nominiert. Wir sprachen mit dem Kunsthistoriker über Close-ups, Pop-Porträts und Cyberfaces.

Ob gemalt, geschnitzt oder in Stein gehauen: Gesichter wirken. Warum sind wir so von uns selbst fasziniert?

Uns ziehen vor allem die Gesichter der anderen in den Bann. Erst durch den Blicktausch nehmen wir auch unser Gesicht wahr. Was uns fasziniert, ist im Grunde also unser Selbst im Gesicht des Gegenübers.

Das ist auch Thema in Ingmar Bergmans „Persona“. Einige Schlüsselszenen daraus analysieren Sie im Kapitel zum Kino. In Close-ups entfalten Gesichter ihre größte Wirkung. Oder ist das ein Mythos?

Zumindest für die Moderne scheint das Kino das naheliegendste Beispiel für eine Kulturgeschichte des Gesichts zu sein. Die Geschichte des Kinogesichts ist von gegenläufigen Entwicklungen geprägt. Sergei Eisenstein etwa hat einen drastischen Kurswechsel unternommen, als er in Filmen wie „Panzerkreuzer Potemkin“ Hollywood-Stargesichtern mit dem kollektiven, anonymen Gesicht der Arbeiter- und Bauernwelt frontal widersprach. In Bergmans „Persona“ ist das Gesicht nicht nur Motiv, sondern Thema. Der Dialog zwischen den beiden Frauen ist sehr ungleich. Eine ist stumm, und die andere versucht, sie zum sprechen zu bringen. Sie scheitert schließlich am mimisch überlegenen stummen Gesicht. „Persona“ ist übrigens ein Begriff aus dem antiken griechischen Theater und bezeichnet die Maske, die Schauspieler trugen.

Der Bezug zur Maske ist zentral für Ihre Geschichte des Gesichts.

Ich wollte ein Klischee beseitigen, nämlich dass Gesichter wahr sind und Masken falsch. Das ist eine kulturell eingeübte Differenz. Das Gesicht selbst wird immer wieder zur Maske und kann sich verstellen, wie eben das des Schauspielers.

Dekonstruiert der Maler Francis Bacon dieses Klischee, wenn er Gesichter auf seinen Bildern regelrecht mit dem Pinsel zerstört?  

Francis Bacon geht davon aus, dass jedes abgebildete Gesicht ein stillgelegtes ist, also eine Maske. Er versucht, es zu entfesseln, ihm Schreie zu entlocken. Er will das Leben zeigen, das dem Abbild fehlt, das nur dem Gesicht selber zukommt.

Sie schreiben, die europäische Kultur habe im neuzeitlichen Porträt eine Maske erfunden, die im Kulturvergleich einzigartig ist. Wie lässt sich das verstehen?

Im Gegensatz zu anderen Kulturen haben sich die Europäer nach der Antike weitgehend von der Maske verabschiedet. Die Porträts der frühen Neuzeit sind eine typisch europäische Erfindung. Sie ermöglichen eine besondere Form der Selbstinszenierung, sind im Prinzip also gesellschaftliche Rollenmasken.

Sie haben sich auch mit dem Gesicht von Mao Tse-tung beschäftigt. Es wurde millionenfach gedruckt, Andy Warhol hat es zur Popikone stilisiert. Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?

Für mich war es überraschend zu sehen, wie genau die Staatsikone Chinas und das Popidol Andy Warhols mit dem gleichen Gesicht genaue Abbilder ihrer jeweiligen Gesellschaften sind, einmal Abbild der parteibeherrschten Volksrepublik China und einmal Abbild der Warenwelt des Kapitalismus, die Warhol in seinen bunten Mediengesichtern spiegelt.

Im Epilog setzen Sie sich mit dem Cyberface auseinander. Dieses Gesicht sei nur noch Bild, nicht mehr Abbild, schreiben Sie. Ist das bei Ikonen, also den Heiligenbildern, die sie an anderer Stelle anführen, nicht ähnlich?

Die Ikone sollte ein Abbild von etwas sein, das die Gläubigen nicht oder noch nicht sehen können. Denken Sie an das Leichentuch von Turin, das ist eine Art Fotografie lange vor ihrer Erfindung. Die Forderung nach Ähnlichkeit war also da, das wurde auf das bürgerliche Porträt übertragen. Beim Cyberface fehlt jede Referenz, es kann frei komponiert werden.

Wird das Gesicht mit zunehmender Digitalisierung an Bedeutung verlieren?

Ich glaube, dass es wesentlich an Bedeutung gewinnen wird. Wenn so viele Cyberfaces im Umlauf sind, wird das Verlangen nach echten Gesichtern wieder größer.

Zum Artikel über weitere Nominierte der Leipziger Buchmesse 2013, der neben dem Interview auf der gleichen Zeitungsseite publiziert wurde