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Auf zwei Beinen aus der Krise? 03/2013, Traffic

Tabu-Morde in Nazideutschland, Nachkriegsliteratur, die erste Kulturgeschichte des Gesichts, ein anthropologischer Blick auf die Art, wie wir Menschen gehen, nämlich aufrecht, und ein Versuch, die Krise zu verstehen: Die Themen der nominierten Sachbücher für den Preis der Leipziger Buchmesse lasen sich als abwechslungsreiche Liste. Die der Autoren war weniger bunt, vertreten war fast ausschließlich die graue Eminenz der deutschen Geisteswissenschaft. Ein wenig aus der Reihe tanzte lediglich Literaturkritiker Helmut Böttiger, der mit 57 Jahren mit Abstand der Jüngste unter den nominierten Männern war – bei der Preisverleihung im März wurde er dann auch gekrönt. In der Kategorie Belletristik hingegen hatte die Nominierung zweier ganz junger Autorinnen überrascht. Ob die Jury hier alte Klischees bediente oder die Leipziger Shortlist Symptom der Auswahlkriterien deutscher Verlage war, sei dahin gestellt. Hier soll es um Inhalte gehen.

Und die sind so divers wie interessant. Mit den Euthanasiemorden im Dritten Reich schlägt Politik- und Geschichtswissenschaftler Götz Aly ein tabuisiertes Kapitel der deutschen Geschichte auf. Die Nazis brachten 200.000 als psychisch krank geltende Deutsche um. Nur wenige der Angehörigen retteten die Opfer aus den Anstalten vor dem Tod, obwohl das möglich war. Warum? Aly befragt Betroffene, wühlt gut gehütete Familiengeheimnisse auf und stößt auf erschreckende Rechtfertigungen. Doch der Autor malt nicht schwarzweiß. Es gehe nicht um die SS-Schergen auf der einen und die Opfer auf der anderen Seite, sagte er im März bei der Vorstellung der nominierten Sachbücher im Roten Salon der Volksbühne in Berlin. Es gehe um das breite Feld dazwischen, um Menschen, die zermürbt vom Krieg waren. Und schließlich sei da noch, was sich keiner zu sagen traue: Kinder, Eltern, Brüder oder Schwestern mit Behinderung können zur Last werden. Aly hat selbst eine behinderte Tochter. Eine schwer vorstellbare Belastung sei das, es gebe plötzlich Todeswünsche, wenn das Kind hohes Fieber habe. Daran, dass der Massenmord an behinderten Menschen in Nazideutschland ein schreckliches Verbrechen war, lässt er keine Zweifel aufkommen. Doch Aly wagt den Blick auf Angehörige als die Belasteten und bahnt sich so einen Weg durch tabuisiertes Gebiet.

In die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und in eine literarische Epoche nimmt uns Preisträger Helmut Böttiger in seinem Buch über die Gruppe 47 mit. Sie definierte sich weniger über einen Stil als über ein Ritual: Ein Autor las in der Gruppe einen Text vor und musste sich der Kritik stellen. Dabei hatte er die Klappe zu halten. Fast ironisch mutet es an, dass der deutsche Literaturbetrieb mit der konstitutiven Rolle des Berufskritikers in diesem Ritual wurzelt. Ein weltweit einzigartiges Phänomen sei das, erklärte Böttiger im Roten Salon. Marcel Reich-Ranicki ist einer von diesen Kritikern, deren Karrieren sich in der Gruppe 47 formten. Die Klappe hielten die Autoren nicht für immer, Martin Walser rechnete 2002 in seinem Roman „Tod eines Kritikers“ auf Schriftstellerart mit dem übermächtigen Reich-Ranicki ab. Bei den Treffen der Autoren ging es vor allem um die Frage, wie denn eine neue deutsche Literatur aussehen könne. Nach 1945 ist das auch eine politische Frage. Die Gruppe 47 sei ein erheblicher Teil des Demokratisierungsprozesses der jungen BRD gewesen, sagte Böttiger, sie habe sich im Adenauerstaat zur Opposition entwickelt. Die Autoren selbst seien unbedeutend gewesen, hätten im etablierten Literaturbetrieb nicht Fuß fassen können. Erst mit Günter Grass’ Roman „Die Blechtrommel“, den er bei einem der Treffen in den späten 1950ern vorstellt, sei der Befreiungsschlag gekommen. Die Gruppe 47 hatte ihre Sprache gefunden. Verleger strömten ab jetzt zu den Treffen, die Erfolgsgeschichte begann.

Die Erfolgsgeschichte des Menschen beginnt mehrere Zeitalter früher: mit dem aufrechten Gang. Philosoph Kurt Bayertz erkundet das menschliche Alleinstellungsmerkmal in einem Streifzug durch zweieinhalbtausend Jahre Geistesgeschichte und zieht Denker wie Plato, Petrarca, Calvin, Montaigne, Rousseau, La Mettrie, Baudelaire oder Schopenhauer heran, um das anthropozentrische Motiv, das wie kein anderes das Selbstbild des Menschen prägt, unter die Lupe zu nehmen. Über zehn Jahre hat es gedauert, den Stoff für dieses umfassende Projekt zusammenzutragen. Seinen Ausgangspunkt nimmt Bayertz bei Ovid. Zu Beginn seiner „Metamorphosen“ reproduziert dieser den Schöpfungsmythos der Antike, in dem Prometheus nach dem Vorbild der Götter die Erde und alle Wesen formt und nur dem Menschen ermöglicht, „sein Gesicht stolz zu den Sternen zu erheben“. Stolz, ja überheblich hat der aufrechte Gang den Menschen gemacht, ihm das vermeintliche Recht zugewiesen, die Erde zu unterjochen. Da ist man versucht, die Volkskrankheit Rückenleiden als Strafe zu verstehen.

Noch zu erforschen ist, wie der aufrechte Gang den krisengeschüttelten „demokratischen Kapitalismus“ prägt, wie der Soziologe Wolfgang Streeck das in der westlichen Welt verbreitete Wirtschaftssystem nennt. Um die gegenwärtige Krise zu verstehen, müsse man sie nicht als Ereignis, sondern als Epochenstruktur begreifen, erklärte Streeck in Berlin. Und die Epoche falle klar mit der Demokratisierung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen. Die Krise könne man nicht isoliert begreifen, so die These, denn sie sei eine Folge der neoliberalen Transformationen der vergangenen Jahrzehnte. Was in den 1970er Jahren noch wunderbar zu funktionieren schien, fing mit dem Aufbau der Staatsschulden in den 1980er Jahren an zu wackeln und spitzte sich mit der zunehmenden Privatverschuldung in den 1990er Jahren schließlich zu. Es habe sich nur um gekaufte Zeit gehandelt. Das Ergebnis sei eine Krise neuen Typs, mahnte Streeck, „für jeden Kopf, den wir der Hydra abschlagen, wachsen zwei nach.“ Als Soziologe begreife er die Ökonomie als Handlungssystem. Damit sei es aber leider auch unvorhersehbar. Ob wir also auf zwei Beinen den Weg aus der Krise finden, bleibt abzuwarten. Bis wir wirklich mehr wissen, können wir die Leipziger Shortlist sicher in aller Ruhe abarbeiten.

Zum Interview mit dem ebenfalls nominierten Kunsthistoriker Hans Belting, das auf der gleichen Zeitungsseite publiziert wurde